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Identität & Polyamorie 

Fushicho • 25. April 2019

Eine Zusammenfassung meiner Forschungsarbeit

Zusammenfassende Darstellung meiner Forschungsarbeit "Identitätskonstruktion und Kohärenzgefühl polyamor lebender Menschen" .


Fußnoten wurden für eine bessere Lesbarkeit entfernt. Dieser Beitrag stellt lediglich einen Auszug aus der Arbeit dar. Da es sich um eine Interviewstudie handelt, umfasst die Original-Arbeit mehrere hundert Seiten, die hier nicht darstellbar sind. Alle wichtigen Kapitel und Ergebnisse sind hier abgebildet.


VORWORT

„Ichi Go – Ichi E“

(jap.)

Ist eine der am häufigsten geschriebenen Zen-Buddhismus Phrasen in Japan, die häufig übersetzt wird mit der Bedeutung: „one chance, one person, one moment, once in a lifetime, for this time only“.

Dieses kulturelle Konzept aus Japan betont die Einzigartigkeit eines jeden Moments, jeder Person im gesamten Leben. Diese Phrase soll Menschen daran erinnern, dankbar für jede Begegnung zu sein und sich darüber bewusst zu sein, dass kein Moment im Leben wiederholbar ist.

Diese Lebenseinstellung begegnete mir im Zuge der Recherchen zu dieser Bachelorarbeit sehr häufig, sodass sie als philosophische Idee der Arbeit vorangestellt werden soll.


Einleitung


Ein Wandel durchzieht die Gesellschaften postmoderner Industrieländer. Traditionen, sowie traditionell geprägte und generationsübergreifend akzeptierte Lebensentwürfe befinden sich in einem Prozess der Veränderung (Peukert, 2012, S. 149-150).

In allen Lebensbereichen, von Beruf über Wohnort und Beziehungen sind Pluralisierungs-, und Individualisierungsprozesse erkennbar, die dazu führen, dass die Menschen einerseits mehr Entscheidungs-, und Verwirklichungsoptionen haben, andererseits aber auch eine deutlich größere Komplexität der Lebenswelt erfahren und dies die Aufgabe, sich entscheiden zu müssen nach sich zieht (Keupp et al., 2002, S.46-52).

Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses über die Veränderungen der Lebenswelt war in den 1960er Jahren vor allem die „sexuelle Revolution“, 1980 eine umfassende Genderdebatte und heute wird besonders das veränderte Verständnis von Partnerschaft und Familie diskutiert (Peukert, 2012, S.151).

Partnerschaftliche Beziehungen sind identitätsstiftende Marker einer Person und die Liebe zu/mit (einem) anderen Menschen ist für die meisten Menschen ein zentrales Ziel in ihrem Leben, das Sicherheit und Geborgenheit garantieren kann/soll (Allensbach, 2012, S.13).

Der Diskurs über das veränderte Verständnis von Partnerschaften beinhaltet insbesondere den Abschied von tradierten Beziehungsentwürfen. Die klassischen partnerschaftlichen Modelle von Ehe und Lebenspartnerschaft werden ergänzt durch die Etablierung von Biographien mit langer Partnerlosigkeit, häufigen Partnerwechseln (serielle Monogamie), Fernbeziehungen oder auch Mehrfach-Beziehungen (Peukert 2012, S.151).

Dabei erscheint es für Individuen deutlich schwieriger sich innerhalb des breiteren Angebots der Beziehungswelt zurecht zu finden und einen eigenen Beziehungsentwurf zu entwickeln, der die Bedürfnisse an eine Beziehung, normative Vorstellungen und gesellschaftliche Vorstellungen vereint (Abels, 2017, S. 427).

Gleichzeitig ist keine automatische Abkehr von traditionellen Beziehungsidealen zu beobachten, obwohl die Lebensweisen und Gestaltungsmöglichkeiten von Beziehungen vielfältiger geworden sind. So sind trotz hoher Trennungs-, und Scheidungsraten die Prozentzahlen derer, die nach einer Trennung erneut heiraten, und damit einem monogamen Beziehungsideal mit langfristiger Bindung und Verbindlichkeit durch die Institution der Ehe folgen, gleichbleibend hoch (Statistisches Bundesamt, 2016).

Bei der Auswahl des Beziehungspartners ist Optimierung ein wahrnehmbarer Trend, der durch Online-Partnerbörsen und Smartphone-Apps mit Fragen-Katalogen und Kompatibilitätshecks bedient wird und den Stellenwert von Partnerschaft und Beziehung für das persönliche Glück hervorhebt (Heitmann, 2012, S.17 ff.). Der partnerschaftliche Lebensentwurf und damit das Beziehungsverständnis scheinen weiter auf die klassische (monogame) Beziehungsform zu setzen, obwohl sich die Schwierigkeit, oder Anforderung daran einen passenden Partner zu finden offenbar erhöht haben, wie die genannten vielfältigen Online-, und App-angebote der Partnersuche, sowie die steigende Anzahl von Singles und Menschen in serieller Monogamie zeigen (Moucha et al, 2014, S.4).

Die insgesamt gesteigerte Beziehungsmobilität und die zunehmenden Möglichkeiten der Partnersuche und Beziehungsführung, bringen natürlich auch Andersdenker mit sich, die sich mit ihrer Wahl des Beziehungsmodells offenbar von dem gängigen monogamen Beziehungsideal lossagen.

Hier sind sicher auch Medien als ein Türöffner zu benennen, denn die mediale Berichterstattung über alternative Liebes-, und Lebensformen hat insgesamt zugenommen. Auch etablierte Zeitungen, mit hoher Druckauflage, wie ZEIT, Focus, BILD und Spiegel beschäftigen sich mit alternativen Beziehungsformen – allen voran der Polyamorie.

Polyamorie ist ein Beziehungskonzept, dessen zentrales Element in bewusster und einvernehmlicher Zustimmung zur Beziehungspluralität besteht. Menschen in polyamoren Beziehungen führen mehrere Beziehungen zum gleichen Zeitpunkt, die jedoch anders, als bei einer Affäre auf Gleichberechtigung aller Partner und Transparenz zwischen den Beziehungen setzen. Sie sind von größerer Bedeutungstiefe und Verbindlichkeit, als ein rein sexuelles Abenteuer (Lautmann, 2015, S.38).

Die bewusste Entscheidung von Menschen für diesen Beziehungsentwurf bringt die Frage auf, wie der Mensch sich innerhalb unterschiedlicher Beziehungen erlebt und bewegt, welches Identitätserleben stattfindet und wie sich der Mensch auf mehreren Beziehungsebenen gleichzeitig agierend erfährt.

Zudem ist ein weiteres interessantes Erkenntnisfeld, die Frage danach, wie Differenzen zwischen gesellschaftlich nach wie vor bestehendem Beziehungsideal der langfristigen monogamen Beziehung (häufig mit dem Ziel der Ehe), sowie persönliche Beziehungsideale polyamor lebender Menschen in Einklang oder Diskussion gebracht werden. Außerdem, wie polyamor lebende Menschen den Wunsch nach Verbindlichkeit und Langfristigkeit innerhalb ihrer Beziehungen umsetzen und leben, welcher ja gesellschaftlich mit monogamen und ehelichen Beziehungen assoziiert wird, aber auch zentrales Element der Definition von Polyamorie in Abgrenzung zu Affären und offenen Beziehungen ist (dazu mehr in der Definition des Begriffs in Kapitel B/ II).

Diese Arbeit hat das Ziel, sich den genannten Fragen zu stellen und das Identitätsverständnis und Kohärenzgefühl polyamor lebender Menschen zu erfassen, erfahrbarer zu machen und zu beschreiben. Dazu soll zunächst in Kapitel B der Identitätsbegriff in seiner Herkunft definiert und in seiner Bedeutung charakterisiert werden. Klassische und postmoderne Identitätstheorien werden vorgestellt und dabei eruiert, welches Begriffsverständnis von Identität dieser Arbeit zu Grunde liegen soll. Es folgen eine Definition und Merkmalsbeschreibung der Polyamorie, sowie eine Erläuterung der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse unter Bezugnahme auf die Verschränkung zwischen Identität und Polyamorie. Kapitel C befasst sich mit dem aktuellen Forschungsstand, Methodik und Forschungsvorgehen. Daran knüpft eine Ergebnisdarstellung nach der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse in Kapitel D an. Zur Erforschung werden drei problemzentrierte Interviews geführt. Eine kritische Betrachtung der erzielten Ergebnisse unter den verwendeten Methoden soll genauso wie die kritische Reflexion der Forscherin eingebunden und in Kapitel E dargestellt werden. Die Arbeit wird mit Kapitel F - einem zusammenfassenden Fazit der Ergebnisse und möglichen sich anknüpfenden Forschungsfragen schließen.

A) Definitionen - Identität & Polyamorie

Im nachfolgenden Kapitel werden die Begriffe Identität und Polyamorie definiert. Dabei wird zur Identität ein Überblick über klassische und postmoderne Identitätstheorien gegeben. Auf die Begriffsdefinition der Polyamorie folgen zentrale Merkmale dieser Beziehungsform.

1. Identität

Der Begriff Identität ist wissenschaftlich wie alltagssprachlich inhaltlich sehr unterschiedlich besetzt und mit verschiedenen Bedeutungszusammenhängen belegt. Eine zunächst den Wortstamm ableitende Annäherung ergibt die Abstammung aus dem lateinischen „idem“ und bedeutet übersetzt „derselbe“ (Prestel, 2013, S.30). Die wörtliche Übersetzung gibt einen Eindruck von der Idee der Gleichheit und Beständigkeit, die mit dem Wort Identität verknüpft ist.

Klassische Identitäts-Theorien:

Vor allem der Psychoanalytiker Erikson prägte den Begriff der Identität mit seinem epigenetischen Schema der Identitätsentwicklung (Erikson, 1983, S.28-41). In diesem Schema führt Erikson die Theorie der Entwicklungsstadien nach Freud fort und ergänzt sie um drei weitere Entwicklungsstufen. Jede Stufe umfasst Entwicklungsaufgaben psychosozialer Natur, deren Gelingen wesentlich sind für eine positive Persönlichkeitsentwicklung. Das epigenetische Prinzip besagt, dass alle Menschen sich durch die festgelegte Abfolge von insgesamt acht Entwicklungsstadien entwickeln und, dass jedes Stadium zu einer rechten Zeit eintritt, sowie in optimaler Zeit durchlaufen wird. Entwicklungsstadien lassen sich nicht überspringen oder beschleunigen. George Boeree vergleicht diesen Vorgang in „Persönlichkeitstheorien“ mit einer Rosenknospe, die sich Blatt für Blatt öffnet um sich schlussendlich in ihrer gesamten Schönheit zu entfalten und wenn wir ein Blütenblatt zu früh aufziehen würden, würden wir die gesamte Entwicklung der Blume zerstören (2006, S.20).

Diese gesetzmäßige Abfolge der Identitätsentwicklung soll im Erfolgsfall die gelungene Identität sicherstellen (Noack, 2010, S.37).

Doch was ist unter einer gelungenen Identität zu verstehen? Grundannahme ist die Entwicklung eines konsistenten Kern-Selbst. Darunter ist ein Kern-Ich zu verstehen, das Verhaltens-, und Erfahrungselemente enthält, die als konstant gelten und die das konsistente Bild bestimmen, mit dem ein Subjekt sich selbst wahrnimmt und von anderen als ‚Selbst’ wahrgenommen wird (Watkins, 2003, S.46). Damit ist das Kern-Selbst eine Art Standard-Rollen-Repertoire - das innere Team des Individuums, dass für diese Person typisch ist.

Zentral prägend für den Begriff „Identität“ ist hier also die Vorstellung von etwas Festem und Kontinuierlichem.

Postmoderne Identitäts-Theorien:

Jüngere Identitätskonzepte betrachten genau diese Kontinuitätsvorstellung und deren stringente Entwicklungsabfolge, sowie den Aufbau einer unveränderlichen Ich-Identität kritisch. Eine solche Annahme eines kontinuierlichen Kern-Selbst scheint die Wandelbarkeit menschlichen Verhaltens in einer vielschichtigen und teilweise konträren Lebenswelt nur unzureichend darzustellen (Schäfer, 2015, S.684). Barker (2005) schreibt: „The conventional way of viewing the self, both in everyday life and in traditional psychology, is as one coherent, stable whole. However, as construct theorists have pointed out, this can be an unhelpful view leading to conflict over what the real self is.“.

Jüngere Identitätskonzepte verwerfen daher die Idee einer singulären überdauernden Kern-Identität. Der Begriff „Patchwork-Identität“ ist prägend für das moderne Identitätsverständnis und vor allem durch Keupp geschaffen (Keupp, 1998, S.17). Dabei wird nicht nur berücksichtigt, dass Individuen in unterschiedlichen Lebenskontexten verschiedenen normativen Vorstellungen, Rollenanforderungen und Handlungsoptionen ausgesetzt sind, die unterschiedlicher oder sogar gegenläufiger Natur sein können, sondern auch hervorgehoben, dass Identitätsbildung vor allem ein Prozess ist, der durch die Interaktion des Individuums mit der Umwelt entsteht (ebd. S.18 / Welsch, 1990, S.94).

Diesem modernen Verständnis folgend, hat das Individuum nicht eine Kern-Identität, sondern mehrere Identitäten verinnerlicht, die es miteinander in Einklang bringen muss.

Es wird angenommen, dass vor allem der Abgleich des Individuums mit der Außenwelt ein wichtiger identitätsbildender Prozess dahingehend ist, als dass sich das Individuum so als konsistent wahrnehmen kann. Gemeinsame Erinnerungen und der Abgleich des Selbstbildes mit der Fremd-/Außenwahrnehmung können als identitätsstiftend verstanden werden (Abels, 2010, S.391). Dabei kann die Vergangenheit auch uminterpretiert werden um sie in die Gegenwart integrieren zu können und ein Gefühl von Kohärenz und Beständigkeit zu erlangen.

Folgt man postmodernen Identitätskonzepten erfolgt also gerade auf Grundlage des Nicht-Identischen die Identitätsstiftung eines Individuums. Die fragmentieren Handlungssphären und widersprüchliche Genese des Subjekts selbst fordern von ihm die Auseinandersetzung mit sich. In der Integration der Fragmente behauptet sich das Subjekt als identisches Selbst. Die Kohärenz ist daher weniger selbst ursächlich identitätsstiftend, sondern vielmehr angestrebtes Resultat einer identitätsstiftenden Auseinandersetzung mit divergenten Handlungssphären (Helsper, 1989, S.80).

Auch deshalb scheint es für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit zielführend, einer modernen Interpretation des Identitätsbegriffes zu folgen, da das Individuum, wie einleitend bereits erwähnt, in einer pluralisierten Lebenswelt verstanden wird. Zudem besteht das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit darin, zu verstehen, wie Individuen ihre Identität in polyamoren Beziehungswelten konstruieren und möglicherweise verschiedene Beziehungsidentitäten für sich kohärent wahrnehmbar machen.

2.) Polyamorie

Polyamorie ist eine Wortneuschöpfung, das griechische „poly“ steht für „viele“ und das lateinische „amor“ bedeutet übersetzt „Liebe“ (Boehm, 2014, S.275). Bereits diese wörtliche Übersetzung macht deutlich, dass Polyamorie auf die Liebe fokussiert und nicht auf die Sexualität.

Die nachfolgende Begriffsdefinition ist eher eine Annäherung, denn eine Definition, da auch gängige Nachschlagwerke wie beispielsweise der Duden den Begriff „Polyamorie“ nicht gelistet haben und die Begriffsannäherung daher, auf der zur Verfügung stehenden Literatur und der Charakterisierung des Begriffs durch Menschen die ihn leben beruht.

Nach Deborah Anapol (2010) wurde der Begriff Ende der 1980er-Jahre erfunden, um den Ausdruck „verantwortliche Nichtmonogamie“ zu ersetzen. Auch dieser Vorläufer-Begriff macht eins direkt deutlich: Die Nichtmonogamie ist eine Entscheidung, die verantwortungsvoll getroffen und verantwortlich gelebt werden soll. Polyamorie hat nichts mit Untreue zu tun. Dabei spielen die Grundsätze von Ehrlichkeit und transparenter Kommunikation eine wesentliche Rolle. Polyamorie stellt sich in Opposition zu der verbreiteten „don´t ask, don´t tell“ – Philosophie vieler Paare. Sie präsentiert sich als gelebte Kritik an veralteten heteronormativen Beziehungsidealen einer repressiven Sexualitätsordnung (Klesse, 2007, S.318). Sie betont die Orientierung auf Beziehungen zu Menschen und grenzt sich von rein sexuell getriebenen Motivationen ab.

Rüther definiert vier Merkmale um die Polyamorie von anderen Beziehungsformen unterscheiden zu können: erotische

Liebe mit mehr als einer Person („Poly“ ist mehr als Freundschaft, ist nicht Monogamie), Transparenz und Ehrlichkeit („Poly“ ist nicht betrügen/ fremdgehen), Gleichberechtigung und Konsens („Poly“ ist nicht patriarchale Polygynie), langfristige Ausrichtung („Poly“ ist prinzipiell nicht Swinging) (2005, S.52-54).

Der ethische Anspruch besteht darin, die Bedürfnisse und Beziehungsrealitäten aller Partner miteinander zu kommunizieren, Aushandlungsprozessen Raum zu geben und nach Möglichkeit einen Konsens zwischen allen Beteiligten zu finden (Klesse, 2007, S.319).

Dabei gibt es nicht die Polyamorie! Es gibt unterschiedliche Interpretationsarten eine polyamore Beziehungen zu führen. Häufig wird unter anderem zwischen hierarchischen Formen (Primär-, und Sekundärbeziehungen, die deutlich machen sollen, welche Beziehung die Basis ist), Polykül (Molekülartig vernetzte Beziehungen, die strang-, oder sternförmig umeinander angeordnet sind und keiner strengen Hierarchie folgen), Polyfidelity (alle Partner sind miteinander intim, aber exklusiv in den bestehenden Beziehungen sexuell aktiv, z.B. eine geschlossene Triade, also eine Dreierbeziehung, die in sich untereinander sexuell aktiv ist, aber nach außen exklusiv), Beziehungsanarchie (es gibt weder Hierarchien, noch Exklusivität, oder Vorschriften, maximal bedürfnisorientiert ausgerichtet) und Unicorns (ein Mensch der in eine bestehende Paarbeziehung hinzukommt und beide Menschen der Paarbeziehung gleichwertig liebt) unterschieden (vgl.: polyamorie.de, 2017). Diese Vielfalt in der Ausgestaltung von polyamoren Beziehungskonzepten gilt es für die Interviews zu berücksichtigen, um ein genaueres Verständnis über die gelebte Beziehungsrealität der Interviewpartner bekommen zu können.

B) Identität und Polyamorie - Verschränkungen in einer pluralisierten Lebenswelt

Nachfolgend soll näher darauf eingegangen werden, warum Beziehungen einen Beitrag zur Identitätskonstruktion leisten und was dies für polyamor lebende Menschen bedeuten könnte.

Bedeutend und identitätsstiftend an Beziehungen ist dafür vor allem der (spiegelnde) Blick der Anderen (Künkler, 2011, S.493).

Der Blick der Anderen kann durch den dadurch geschaffenen möglichen Abgleich des Individuums mit dem Blick auf sich selbst subjektstabilisierend und –konstruierend wirken. Dabei ist das Individuum im Interaktionssystem seiner Umwelt, zum einen selbst Objekt, denn es ist ‚Objekt von Orientierungen’ für die Anderen, und des Weiteren sind die Anderen umgekehrt ebenso Objekte zum Abgleich für das Individuum. Es ist also ein wechselseitiger Prozess des Spiegelns und der Reflexion von Motivation und Handeln (Abels, 2017, S.244). Die Orientierung an Anderen wird in der Literatur zu Identität auch als Außenleitung beschrieben. David Riesmann (1950) beantwortete die Frage danach, wie sich der zunehmende Rollenpluralismus und die geschwächte Normativität eines allgemeinen kulturellen Konsenses auf das Individuum auswirken wie folgt: „Das Individuum orientiert sich nicht mehr an sich selbst, sondern an den Anderen, und tue das, was ‚man’ so tue“ (Riesmann in Abels, 2017, S. 243). Um sich selbst dabei jedoch nicht zu verlieren und ein kohärentes Bild von sich selbst entwickeln zu können, oder sich mindestens als kohärent wahrzunehmen, ist jedoch erforderlich, die unterschiedlichen Rollen in denen das Individuum agiert miteinander zu verknüpfen. Salopp formuliert: Tut man nur, was andere so tun, tut man eben wenig was man selbst so tut, selbst tun möchte, oder einem selbst gut tut. Auch Parsons betont die Wichtigkeit der Integration:

„Das häufig als Rollenpluralismus bezeichnete Phänomen ist ein einzigartig charakteristisches Merkmal moderner Gesellschaften. Das erwachsene Individuum ist der Brennpunkt eines komplexen Rollensystems. [...] Wenn diese manngifaltigen Rollenverplfichtungen, die mit zunehmendem Status des Individuums und mit wachsender Komplexität der Gesellschaft komplexer werden, von ein und demselben Indiviuum gehandhabt werden sollen, müssen sie systematisch miteinander verknüpft werden.“

(Parsons, 1968, S.78).

Betrachtet werden soll nun, wie sich die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse mit einhergehender gesteigerten Komplexität der Lebenswelt und der damit verbundenen Rollenpluralismus konkret in Bezug auf Beziehungen gestalten könnten: Die Wahl der eigenen Beziehungsform im Erwachsenenalter ist heute in deutlich geringerem Ausmaß gesellschaftlich eingeschränkt oder mit Sanktionen belegt (Lautmann, 2015, S.29-30). Auch wenn die Diversität gelebter Beziehungsformen insgesamt zugenommen hat, kann gesamtgesellschaftlich nicht von einem Wertepluralismus diesbezüglich gesprochen werden (Peukert, 2012, S.148).

Schmidt et al. zeigen in ihrem Report, dass die Mehrheit der jüngsten untersuchten Kohorte nach wie vor nach einer auf Dauerhaftigkeit ausgerichteten Beziehung streben und das klassische Familienmodell präferieren. Dies gilt auch für sexuelle Treue und Exklusivität durch Monogamie.

Dennoch zeigt der Querschnitt der jüngsten Kohorte mehr Beziehungswechsel, kürzere Beziehungsdauer und einen höheren Anteil partnerschaftsloser Personen.

Die angestrebte Beziehungsform wird also heute weniger gesellschaftlich restringiert und geprägt, sondern mehr durch individuelle Vorstellungen/Bedürfnisse und Wünsche geformt (Brüderl, 2004, S.10). Die Beziehungsqualität wird dabei als entschieden wichtig bewertet: „Die Instabilität heutiger Beziehungen resultiert nicht aus Bindungsunfähigkeit oder –unlust, sie ist vielmehr die Konsequenz des hohen Stellenwerts, der Beziehungen für das persönliche Glück beigemessen wird und der hohen Ansprüche an ihre Qualität“ (Schmidt et al., 2006, S.33).

Die hinzugewonnene Freiheit in Bezug auf Liebe und Beziehung bringt, wie bereits in anderen Kontexten aufgezeigt nicht nur Vorteile, sondern auch gesteigerte Komplexität, Unsicherheit und einen Entscheidungszwang mit sich. Dabei muss das Individuum eine Antwort finden auf die Frage, was Liebe denn eigentlich sein soll und Beziehung geben soll. Sex? Abenteuer? Anerkennung? Ökonomische Sicherheit? Emotionale Geborgenheit?

Tobias Hürter (2017) fasst für die ZEIT in seinem Artikel „Liebe“ die bisher getroffenen Überlungen nochmals treffend zusammen:

„Liebesbeziehungen geben Menschen den Ort in der Welt, an den sie gehören, die Basis, von der aus sie nicht nur nehmen, sondern auch geben können. ‚Liebe ist die Entrückung, die wir für Menschen und Dinge verspüren, die in uns die Hoffnung auf ein sicheres Fundament für unser Leben wecken’, sagt der Philosoph Simon May.Simon May beruft sich unter anderem auf Sigmund Freud, den Pionier des Unbewussten und Erfinder der Psychoanalyse, der eine wenig schmeichelhafte Auffassung von der Liebe hatte: Diese sei der unbewusste Wunsch des Menschen, in jene Geborgenheit zurückzukehren, die er als Säugling am Busen seiner Mutter erlebt habe. Kein Wunder, dass die Sehnsucht nach der Liebe in einer unübersichtlichen Welt lebendig bleibt. Kein Wunder aber auch, dass Liebe heute schwerer fällt als früher, wenn Menschen gleichzeitig Freiheit und Beständigkeit wollen; wenn sie die Liebe für ein Gefühl halten und sich gleichzeitig wünschen, dass sie für immer bleibt; wenn sie die Eine oder den Einen suchen und sich dabei in der Menge der Möglichkeiten verlieren; wenn sie sich nach Nähe sehnen und nicht einmal wissen können, was der andere von ihnen will und erwartet. Wer liebt, verändert seine Identität. Ein liebender Mensch verleugnet nicht sein Wesen. Aber er ändert sein Leben. Entdeckt neue Interessen, trifft Kompromisse für Partner, verändert vielleicht auch Wohnart-, sitz. Auch deshalb haben viele heute ein gespaltenes Verhältnis zur Liebe. Sein Leben ändern für jemand anderen? In einer Zeit, in der Individualisierung zu den Megatrends gezählt wird, ist das ziemlich viel verlangt.“

In dieser Arbeit liegt das Interesse auf Menschen, die sich in der Vielfalt der Optionen für polyamore Liebesbeziehungen entschieden haben. Hier stellt sich in besonders großem Maß die Frage, wie sie stabile Beziehungsfaktoren kreieren können, die eine kontinuierliche Selbsterfahrung erleichtern und damit ein kohärentes Selbsterleben ermöglichen.

Allgemein gesprochen: Das Individuum wird durch die Tatsache, dass der Rollenpluralismus an Bedeutung gewinnt, insgesamt mehr zentrifugalen Kräften ausgesetzt. Jede Rolle ist an Verpflichtungen, Erwartungen und Belohnungen geknüpft. Dadurch wird es unerlässlich, die verschiedenen Rollenverpflichtungen integrieren zu können und so ein internalisiertes Selbstbild zu schaffen, das wiederum der Bezugspunkt für eine erfolgreiche Integrationsleistung der verschiedenen Rollenverpflichtungen ist (Abels, 2017, S. 245).

Auf Polyamorie bezogen: Wenn schon eine Liebesbeziehung die eigene Identität formt und beeinflusst, und mit einer Beziehungsrolle und damit Erwartungen und Verpflichtungen verknüpft ist, wie sieht es dann mit mehreren gleichzeitig bestehenden Liebesbeziehungen aus?

M.Barker (2005) mutmaßt: „It seems that polyamory has the capacity to help people to explore the different facets of themselves and perhaps come to alternative understanding of self identity through the different ways they might see themselves reflected in the eyes of others they are closely involved with“.

C) Forschungsmethode


Das Forschungsthema ist von subjektivem Charakter und erfordert daher eine Forschungsmethode, die das Ziel verfolgt, keine pauschalen statistisch-repräsentativen Daten zu erheben, sondern auf individueller Subjekt-Ebene Informationen zu erheben, Perspektiven auf das Thema zu erfahren und Bezugsrahmen festzustellen, ohne dabei die Fragestellung aus dem Blick zu verlieren. Durch diese Prämisse kommt keine der quantitativen Erhebungsmethoden in Frage. Die qualitative Methode des problemzentrierten Interviews (PZI) kommt dem beschriebenen Ziel am nächsten und soll daher in dieser Arbeit Anwendung finden (Mayring, 2002, S.67-69).



Qualitative Interviews sind von Effekten wie sozialer Erwünschtheit, Interviewer-Einflüssen, oder Fragereiheneffekten nicht gefreit (Diekmann, 2012, S.544). Dies gilt es in der Auswertung des Interviewmaterials zu berücksichtigen.



Erforscht wird eine verhältnismäßig kleine soziale Lebenswelt, die in der Beziehungs-, Sexualitätsforschung bisher selten Beachtung gefunden hat. Dennoch sind diese kleinen Lebenswelten für die Gesellschaftswissenschaft von Bedeutung, denn die soziologische Lebensweltforschung kann als Vermittlerin und Übersetzerin zwischen diesen kleinen sozialen Lebenswelten mit ihren eigenen Relevanz-, und Deutungsschemata dazu beitragen, das gemeinsame Wissen und gemeinsame Relevanzen in einer Gesellschaft auf mehr als das nötige Minimum zusammenzufassen (vgl. Venn, 2015, S.250). Wie Hitzler (1999) treffend zusammenfasst:



„Die in all den fremden Welten ganz in der Nähe sich entwickelnden habituellen Eigen-, und Besonderheiten, die je speziellen Praktiken und Riten, die identitätsstiftenden Emblematiken und Symboliken, die Relevanzsysteme und Wissensbestände, die Deutungsschemata und Distinktionsmarkierungen werden zu zentralen Gegenständen einer individualisierungs-theoretisch orientierten Diagnose gesellschaftlicher Umstrukturierungen im Rahmen aktueller Modernisierungsprozesse. Und den einschlägig befassten soziologischen Quasi-Ethnologen der eigenen Gesellschaft wächst damit unter anderem auch die ganz praktische Aufgabe zu, als >Übersetzer> zwischen all den je >eigensinnigen> Welten zu fungieren.“

--> Problemzentriertes Interview (PZI)



Narrative Kompetenz kann nicht bei jedem Interviewpartner automatisch vorausgesetzt werden (Diekmann, 2012, S.542), um aber in einem Interview möglichst viel über den Themenbereich des Forschungsgegenstandes zu erfahren, kann es hilfreich sein, mit narrativer Kompetenz eine gewisse Erzähllogik zu verfolgen. Diekmann beschreibt das problemzentrierte Interview als eines, dass dem Interviewer die Möglichkeit bietet, das Gespräch durch einen Fragen-Leitfaden zu strukturieren. Dabei ist es wichtig, dass das Einbringen von Fragen situativ angepasst geschieht und nicht einfach nur der Leitfaden chronologisch abgefragt wird. Es darf und soll sich eine eigene Gesprächsdynamik entwickeln, in der der Interviewer aber immer wieder die Möglichkeit hat, auf ein bestimmtes Thema (zurück-) zu lenken (ebd.).



Nach Witzel (2000) sind in der Durchführung des PZI drei Grundprinzipien zu beachten: Die Problemzentrierung, die Gegenstandsorientierung und die Prozessorientierung. Vor allem die Prozessorientierung, bei der auf die Sensibilität des Interviewers mit den Interviewpartnern verwiesen wird ist für diese Forschungsfrage aufgrund der, die Intimsphäre der Befragten berührenden Thematik relevant. Der Interviewer soll eine annehmende Grundhaltung ausstrahlen und auf eine Interviewatmosphäre mit Wohlfühlstimmung für die Interviewpartner Wert legen. Daher sollten die Interviewpartner aktiv selbst bestimmen an welchem Ort das Interview stattfinden soll.



D) Auswertungsvorgehen



Das Interviewmaterial dieser Arbeit, soll mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) ausgewertet werden.



In der Tradition der Hermeneutik stehend, geht es in diesem Verfahren um die Strukturierung und Ordnung des erhobenen Materials mit den Zielen der systematischen Textanalyse, Komplexitätsreduktion des Materials und intersubjektiven Überprüfbarkeit der erhobenen Ergebnisse.



Die qualitative Inhaltsanalyse zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie nicht nur für die Forschungsfrage relevante Einzelfaktoren aufdeckt, sondern auch ermöglicht, Zusammenhänge zwischen mehreren Faktoren zu konstruieren. Auf Basis der Fragestellung und der bereits erfolgten Literaturrecherche werden Kriterien zur inhaltlichen Selektion festgelegt. Danach wird das Material gelesen und relevante Textstellen markiert, sowie paraphrasiert. Relevante und paraphrasierte Textstellen werden nachfolgend Kategorien zugeordnet. Die Kategorien sollen die inhaltlich relevanten Themen darstellen. Im Rahmen dieser Arbeit werden die Kategorien primär induktiv gebildet, das bedeutet, dass das Material vorgibt, welche Referenzrahmen zur inhaltlichen Analyse gesetzt werden.


Von besonderer Relevanz sind dabei Themen, die in allen Interviews wiederholt aufkommen, sowie Themen bei denen die Interviewpersonen eigenständig mitteilten, dass sie von großer Relevanz für sie persönlich sind. Das Textmaterial wird dadurch so weit reduziert, dass zentrale Inhalte erhalten bleiben und ein überschaubarer Text entsteht. Es geht also um eine Zusammenfassung des Materials, bei der jedoch der inhaltliche Sinn erhalten bleibt und dieser systematisch darstellbar organisiert wird.


E) Ergebnisdarstellung:

1.) Wege in die Polyamorie

Die Entwicklung einer Beziehung hin zu einer polyamoren Lebensweise, beziehungsweise der eigene Zugang zur Polyamorie gestalten sich sehr unterschiedlich.



In zwei von drei Interviews bestand bereits eine bis dato monogam ausgerichtete Paarbeziehung, die dann gemeinsam für weitere Beziehungspartner geöffnet wurde. Lediglich in einem Interview wurde die Person als Single Teil einer polyamor ausgerichteten, bereits bestehenden Paarbeziehung.





(a)Polyamorie als Ausweg aus der Untreue



Im Interview W/E folgte auf eine lange Zeit der beidseitigen Beziehungserfahrung mit Untreue und Betrug, die Auseinandersetzung mit Polyamorie über einen Zeitungsartikel der ZEIT, in dem sich die Interviewpartnerin wiedererkannte und diesen als Gesprächsgrundlage mit ihrem Partner nutzte. Ausgehend von diesem – ihr die Augen öffnenden Artikel - trafen beide eine bewusste Entscheidung sich näher mit Polyamorie auseinanderzusetzen und in diesem Beziehungsmodel eine Lösung für Untreue und Betrug zu finden (z.118f.). W hatte während der Beziehung und Ehe zu E bereits heimlich andere Beziehungen zu Männern geführt in denen es vordergründig um eine tiefe und intensive emotionale Verbindung ging, und weniger um sexuelle Erfahrungen (z.45). E hingegen verspürte kein Bedürfnis nach einer weiteren Partnerin und richtete ein hypothetisches Interesse primär auf die Erweiterung von sexuellen Horizonten, fühlte sich jedoch durch die Vorstellung von emotionaler Tiefe in einer weiteren Beziehung zunächst bedroht, da er von einer früheren Partnerin damals sehr stark eingenommen wurde und ihr gesamtes Leben mitorganisieren und leben sollte (z.218f. / z. z.260). W formuliert sehr klar: „ich wusste es aber auch, er ist ja auch fremdgegangen, wenn man aus so einer Situation heraus zusammenkommt, dann weiß man wozu der andere fähig ist.“ (z.87). Dieser Satz macht sehr klar, dass im Bestreben, die gemeinsame Beziehung polyamor auszurichten auch ein Versuch lag, die Beziehung nicht an unerfüllten Treuerwartungen und Betrug zerbrechen zu lassen. J berichtet ebenfalls von Erfahrungen der Untreue in vergangenen Beziehungen und berichtet, dass sie sehr häufig mitbekäme, wie Freunde/Bekannte fremdgehen (Z.35). Auch bei ihr wird eine Kritik an der gesellschaftlichen Norm der Treueerwartung und der gleichzeitig häufigen Nichterfüllung deutlich. P gibt auch an, in seinen vorherigen Beziehungen häufig untreu gewesen zu sein (z.73/ 79f.) und erst in seiner jetzigen Beziehung, die monogam begann, das offene Gespräch mit seiner Partnerin gesucht zu haben, um einen gemeinsamen Weg zu finden, der eine Alternative zum Betrug darstellt. Er sagt: „Ja vielleicht wird man irgendwann reif genug, dass man entscheiden kann, dass es so nicht weitergeht und man vielleicht von Anfang an mit offenen Karten spielen sollte, dass sich die Chancen erhöhen, dass man auch das kriegt, was man sich so überlegt hat für sich“ (z.86f.), und macht damit ebenfalls deutlich, dass die polyamore Ausrichtung ein Versuch ist, die Beziehung nicht an einer unerfüllten Treueerwartung/Betrug scheitern zu lassen.





(b) In die Wiege gelegt versus bewusste Entscheidung



W erzählt, dass sie schon immer mehrere Menschen geliebt habe, aber bis sie den Artikel über Polyamorie las, keine Bezeichnung für ihr fühlen gehabt habe (z.58f.). Für sie ist die polyamore Neigung eine Veranlagung, die sie schon immer in sich trug. Sie sagt, dass sie sich nicht dagegen wehren kann oder möchte, Liebe für mehr als einen Menschen zu empfinden (z.334f.). Sie definiert sich stark über ihre Art Beziehungen zu führen (z.753f.). E hingegen hat sich bewusst für Polyamorie entschieden, ohne dass er aktuell davon Gebrauch macht mehrere Beziehungen zu führen. Er definiert sich selbst nicht sehr stark über die Polyamorie.



J ist durch Zufall mit Polyamorie in Berührung gekommen, weil sie eine Frau kennenlernte, die bereits mit einem Mann in einer Beziehung zusammenlebte und sich selbst als polyamor identifizierte (z.16/ 19f.). Auch sie traf diese Entscheidung ganz bewusst.



Gleiches gilt für P, die polyamore Ausrichtung der Beziehung war zunächst ein Kompromiss, weil seine Freundin gegen eine offene Beziehung war, später stand er selbst aber auch vollumfänglich dahinter (z.264f.).





(c) Verhältnis zur Monogamie



Keiner der Interviewpartner äußert sich strikt ablehnend gegenüber Monogamie, so ist es für J zum Beispiel auch vorstellbar, irgendwann wieder eine monogame Beziehung zu führen (z.95.) Mehrfach werden Monogamie und Ehe in ihrer Bedeutung für den Menschen und in ihrem historischen Ursprung kritisch hinterfragt. So gibt J an, dass sie denkt, dass Monogamie für viele Paare wichtig sei, weil sie ihren Partner als eine Art Besitz ansehen, sie spricht von „dass die mit ihren Partnern umgehen wie mit Haustieren, oder so voll verschmolzen alles nur noch zusammenmachen (...)“ (z.51f.). Sie meint, viele monogame Paare, generieren über sexuelle Exklusivität ein Gefühl von Sicherheit (Z.49). Ferner sieht sie Polyamorie auch mit der modernen Lebenswelt verknüpft: „(...) ich glaub poly ist schon n Konzept, dass so zum modernen Menschen passt, der ja auch vielfach interessiert und unterwegs ist und ich glaube man kann vielleicht auch heute nicht immer alles mit einem Partner realisieren.“ (z.69f.). P meint, dass Monogamie vor allem ein Sozialisationsprodukt sei, etwas Anerzogenes durch christliche Werte (z.110f.). Die Ehe sei für viele Menschen vor allem auch eine ökonomische Absicherung gewesen, gerade als die Frauen den Männern noch nicht so gleichgestellt waren wie heutzutage (z.134f). Er betont, dass diese gesellschaftlichen Werte heute nicht kleiner seien, aber weniger sanktioniert und es insgesamt mehr Möglichkeiten gäbe, da der Mensch sich vor allem durch das Internet und die Globalisierung mehr Informationen über andere Kulturen, Lebensweisen und Beziehungsstile einholen könne (z.143f. / z.160f.). Leicht kritisch merkt er an, dass alternative Lebensstile wie zum Beispiel Polyamorie auch inszeniert und instrumentalisiert werden können um einen Lifestyle zu propagieren. Hier nennt er als Beispiel Rainer Langhans und die Kommune 1 (z.162f.).

2.) Zwischen Ich - Du und Wir



Für alle interviewten Personen ist die jetzige polyamore Beziehung die erste Beziehung, die klar als polyamor ausgerichtet und definiert ist, statt unausgesprochen oder heimlich auf Affären zu setzen. Transparenz und Ehrlichkeit sind wichtige Faktoren für alle.



Bis auf P hatte niemand der Interviewpartner Rollenvorbilder an denen eine Orientierung hätte stattfinden können und auch P gibt an, schnell bemerkt zu haben, dass die Erfahrungen die Bekannte mit Polyamorie gemacht haben nicht mit seinen eigenen gleichzusetzen seien (z.174f.).





(a)Entfremdung und Überforderung



Teil einer polyamoren Beziehung zu sein, hat alle Interviewpartner zu Beginn herausgefordert. W/E berichten, zunächst jede verfügbare (Ratgeber-) Literatur zum Thema gelesen zu haben (z.149f.). Auch P gibt an, zunächst eher auf theoretischer Ebene mit seiner Partnerin über die Öffnung der Beziehung gesprochen zu haben (z.34). Und J erzählt, sich in Internetforen informiert zu haben und Stammtische zum Austausch besucht zu haben (z.82). Auf die Neuausrichtung der gewohnten Beziehungsform scheint also auch eine geistige Neu-Ausrichtung zu folgen, die die Interviewpartner nicht alleine mit sich bewältigten, sondern durch Hilfe aus Büchern, Internet und mit Stammtischgruppen.



J und E berichten, sich zunächst überfordert gefühlt zu haben (J z.86./ E z. 153). Besonders E äußert dies sehr deutlich: „also es führte im Grunde dazu, dass sie quasi missionierte und ich das Gefühl hatte, ich konnte gar nicht mehr richtig atmen, weil sie diese ganze Literatur las und die mir dann teilweise auch so unkommentiert hingelegt wurde, so nach dem Motto ‚hier lies mal’ und dann haben wir noch über alles reden sollen und das hat mich zum damaligen Thema enorm überfordert (...).“ (z.153f.).



Der Start in die Polyamorie scheint vor allem ein Unsicherheit-stiftender Prozess, weil unbekanntes soziales Terrain betreten wird. Trotzdem die Entscheidung für Polyamorie bewusst getroffen wurde, scheint die Orientierung auf dem neuen Beziehungsfeld zunächst schwierig und herausfordernd. Soziale Standards, wer für wen innerhalb einer Beziehung verantwortlich ist, dass/ob Partner überhaupt füreinander verantwortlich sind, dass man sich als einzigartig und besonders wahrnehmen möchte und sich ein gemeinsames Zuhause aufbaut sind plötzlich außer Kraft gesetzt und stiften nicht mehr selbstverständlich Orientierung. Alle Interviewpartner berichten von einem Prozess der Entfremdung und Entfernung voneinander zu Beginn der polyamoren Ausrichtung der Beziehung.



„Poly wurde zum täglichen Thema (...)das hat richtig an mir gesaugt (...)“



(E z. 182)



„nein ich hatte gar keins mehr [Anm.: Sicherheitsgefühl], ich war völlig unsicher und fühlte mich nicht mehr geliebt (...)“



(E z.218)



„Genau und ich habe gemerkt, stopp da geht jetzt falsch, er entgleitet mir völlig (...)“



(W z.224)



„(...) dann haben wir uns wirklich entfernt, bis ich mich irgendwann für die andere Frau entschieden habe“



(E z.239



)

„Dann denkt man immer schnell, dass man vielleicht dann nie so wichtig werden kann, wie der Partner der vorher da ist und ich war mir auch unsicher ob das jetzt so mit Liebe möglich ist, oder sagen wir mal so, wenn man weiterdenkt, so normalerweise zieht man ja dann irgendwann zusammen und plant Zukunft (...)“



(J z. 88f.)



P erzählt, dass er und seine Partnerin zu Beginn versucht hätten, eine „möglichst große Kluft“ (z.299) zwischen der eigenen Beziehung und anderen Partner aufzubauen, um sich die eigene gemeinsame Welt zu bewahren und zu schützen.





(b) Wiederannäherung, Verhandlung führen, Regeln aufstellen



Auf diese Phase der Entfremdung voneinander, folgt jedoch bei allen Interviewpartnern auch eine Phase der Wiederannäherung und der gemeinsamen Verhandlung über die Beziehung. Verhandelt werden insbesondere Regeln und Kompromisse, um eine für alle Beteiligten gute Beziehungs-Basis zu finden.



„Also ich kann für mich sagen, dass viel reden und am Anfang vor allem auch Regeln haben mir geholfen. Die Regeln waren eben so, dass wir maximal transparent miteinander sind und sich niemand schämen muss über seine Gefühle oder Unsicherheiten zu sprechen und jeder mitteilt, wenn jemand neues im System auftaucht“



(J z.135f.)



Gegenseitige Rücksichtnahme und die Perspektive des anderen einzunehmen waren für alle hilfreiche Schritte im Prozess der Wiederannäherung und Aushandlung. J schildert, dass jeder in seinen Handlungen darauf achtet, wie diese sich auf das Gesamtgefüge aller Beziehungen auswirken und Rücksicht nimmt, wenn einer der Partner im Beziehungsgefüge mit einem anderen ein Problem hat (z.142f.). Auch P schildert, dass er in gemeinsamen Gesprächen vor allem ein Gefühl dafür bekommen wollte, womit seine Partnerin sich wohlfühlt (z.207f.). W/E haben durch den Besuch eines Stammtisches und den dortigen Austausch mit anderen polyamoren Menschen wieder zueinander gefunden, weil E plötzlich gemerkt habe, dass es in Ordnung sei, wenn er das Bedürfnis nach einer sehr engen und ausschließlichen Beziehung habe und seine Frau nicht (z. 343f.). Durch den Stammtisch hat W gelernt, dass E das Tempo in der Beziehungsarbeit vorgeben muss, weil er derjenige ist, der sich mit der Situation unsicher fühlt (z.353). Im Schlusswort des Interviews betont W: „Polyamorie hat etwas mit Begrenzung zu tun (...) jeder von uns muss sich begrenzen, um die Bedürfnisse des anderen zu stillen und gleichzeitig freier zu werden.“ (z.951f.). P und seine Partnerin fanden einen Kompromiss darüber, welches Beziehungsmodell sie leben, indem sich beide für Polyamorie entschieden, obwohl P eigentlich eher an einer (rein sexuell aufgerichteten) offenen Beziehung interessiert war (z.264f.). Diese Entscheidung sei vor allem eine Vernunftentscheidung gewesen, die darauf beruhte, dass ihm sehr wichtig sei von außen mit seiner Partnerin als Einheit und als konsistent wahrgenommen zu werden (ebd.). Er betont, dass vor allem die Tatsache zu erleben, dass die neue Beziehungspraxis nichts an der Beziehung zur Partnerin verändert dazu führte, dass er sich sicherer damit fühlte: „man merkt dann eben auch, dass es keine negativen Konsequenzen hat und man merkt, dass sich nichts verändert, weil man ja auch immer wieder erlebt, dass nichts passiert (...). (z.332f.).



Zu diesen ‚Statuten’ der neu ausgehandelten Beziehung gehört auch, dass W/E und P klar zwischen Primär-, und Sekundärbeziehungen hierarchisieren und damit deutlich machen wollen, wo ihr Lebensmittelpunkt liegt. P bezeichnet seine Primärbeziehung zu seiner Freundin als sein „emotionales Zuhause“, welches ihm Stabilität und Sicherheit stiftet und er sieht dieses Zuhause von den anderen Beziehungen unberührt (z.353f.) W sagt: „E ist mein Hafen, mein Anker, meine Basis“ (z. 925). J äußert sich nicht explizit zu Hierarchien, vermittelt aber über das gesamte Interview den Eindruck in einem sehr in sich vernetzten, engen und verwobenen Beziehungsgefüge zu sein, indem es keine klaren Zuordnungen gibt, in dem sie sich aber trotzdem „absolut verwurzelt in diesem Gefüge [fühlt]“ (z.271) und mit ihren Partnern auch die Zukunft gemeinsam plant (ebd.).



3.) Verbindlichkeit und Treue im Kontext Eifersucht

Die Phase der Wiederannäherung aller Paare beinhaltete das aushandeln von Regeln, die die Partner sicher und verbindlich miteinander fühlen lassen. Monogame Beziehung drücken Verbindlichkeit vor allem über sexuelle Exklusivität aus. Dies ist in polyamoren Beziehungen offensichtlich nicht der Fall. Das Gefühl von Verbindlichkeit und Zugehörigkeit zueinander muss entweder anders kreiert oder non-existent sein. Letzteres erscheint dabei schwer vorstellbar. Die Ergebnisse aus dieser Kategorie sollen mit einem Zitat aus Friedwagners Studie eingeleitet werden, indem es darum geht, wie sich sexuelle Außenbeziehungen auf monogame Beziehungen auswirken können:



„Nach einer Studie von Astrid Riehl-Emde (1998) stehen bei der Frage nach den Gründen einer Trennung sexuelle Außenbeziehungen an erster Stelle, unabhängig von Geschlecht, Alter und Ehedauer. Sexuelle Außenbeziehungen werden vom Betrogenen als Verletzung des Paktes, in dessen personalen Liebesgemeinschaft erfahren. Es ist ein Pakt, in dessen Realisierung die Partner ihre Lebenskraft oft über Jahrzehnte investiert haben. Sexuelle Außenbeziehungen sind ein Verrat am Vertrauen, das die Basis für diese Investitionen bildet. Die von Untreue Betroffenen beteuern, dass für sie die Welt zusammengebrochen sei. Diese Formulierung bestätigt nach Willi (2004) die Beschreibung, wonach sich Partner in verbindlichen Beziehungen eine gemeinsame innere und äußere Welt erschaffen. Die Verletzung ist so tief, dass die Betroffenen bei fortgesetzter Außenbeziehung des Partners in schwerste Selbstzweifel und Depressionen verfallen. Oft kann der Boden unter den Füßen und die Selbstachtung erst nach einer Trennung wiedergefunden werden“



(in Friedwagner, 2011, S.12)



In polyamoren Beziehungen gehen Partner bewusst und einvernehmlich (sexuelle) ‚Außen’beziehungen ein. Nicht immer sind diese von sexueller Natur und auch in den Beziehungen, die Sexualität im Sinne von Geschlechtsverkehr



miteinander teilen, liegt auf diesem eben nicht der Fokus der Beziehung. In polyamoren Beziehungen scheinen diese Außenbeziehungen also offenbar nicht als Verletzung des „gemeinsamen Paktes“ verstanden zu werden, zumal dieser Pakt ja auch einvernehmlich anders lautet. Welchen Umgang die interviewten polyamoren Menschen mit Verbindlichkeit haben, wird nachfolgend genauer betrachtet.





(a) Betonung der Langfristigkeit



Ein wichtiger Aspekt, sich trotzt weiteren Beziehungen neben der eigenen sicher zu fühlen, scheint in der Betonung der langfristigen und ernsten Ausrichtung der Beziehung zu liegen. W macht dies vor allem deutlich, als sie erklärt, worauf sie bei der Partnersuche Wert gelegt hat: „(...) wer mir da nicht absolute Verbindlichkeit versichert(...)“ (z.415) und führt weiter aus, dass sie ihren zweiten Partner auch noch heiraten würde, wenn dies möglich wäre (z.604). Ihr Primärpartner E hingegen möchte bestimmte Privilegien für sich behalten, zum Beispiel verheiratet zu sein und ein Haus zu teilen und fühlt sich von der Vorstellung der Mehrfach-Heirat eher bedroht (z.470). Auch P. legt Wert auf Privilegien, indem er das gemeinsame Bett beispielsweise nur mit seiner Primärpartnerin teilen möchte, obwohl diese nichts dagegen hätte, wenn er es mit anderen Frauen teilen würde (z.450). W bezeichnet ihr Polyamorie-Verständnis als „große Familie“ (z.607) und sagt ferner „wenn ich eine Beziehung eingehe, dann gehe ich die fürs Leben ein, ich würde niemals (!) einfach mit jemandem poppen“ (z.382). Immer wieder betont sie ihren Leitsatz: „Mir geht es um Verbindlichkeit, Langfristigkeit, gemeinsam alt werden, es geht um etwas ganz enges, Beziehung!“ (z.780).



Auch J betont, dass man zwar für Beziehungen keine Garantien aussprechen könne, es aber allen Beteiligten in ihrem Netzwerk um langfristige Beziehungen gehe (z.130). Sie verwendet ebenfalls die Beschreibung „Familie“ und sagt: „es ist insgesamt ein sehr familiäres und tragendes Gefühl“ (z.163). P arbeitet nicht konkret darauf hin, eine langfristige Beziehung anzustreben, er ist – wie er selbst bewertet- realistisch und betont vor allem die Bedürfnisse seiner anderen Partnerinnen, indem er einräumt, dass diese gegebenenfalls auch nach einer Primärbeziehung suchen würden und diese nicht zwangsläufig polyamor ausgerichtet sein wird, sodass er diesem Bedürfnis immer Vorrang geben würde, auch wenn er sich bei manchen Partnerinnen vorstellen und wünschen würde, dass die Beziehungen längerfristig andauern (z.410f.). Alle Interviewpartner sind mindestens seit einem Jahr mit ihren anderen Partnern zusammen und sehen sich auch regelmäßig. Bei W/E gab es zunächst klare Absprachen, an welchem Wochentag und für wie viele Stunden W ihren zweiten Partner treffen darf (z.434). Nachdem E sich aber sicher mit der Beziehung fühlte und sich daran gewöhnt hatte, verliefen die Absprachen darüber offener (z.438). P versucht sich immer an den gleichen Tagen wie seine Primärpartnerin zu verabreden, um in der verbleibenden Freizeit möglichst viel gemeinsame Zeit verbringen zu können (z.443). Bei J gibt es keinerlei Besuchsregeln oder feste Zeiten, sie verabredet sich so, wie es grade in ihr Leben passt, manchmal auch nur für einen Kaffee, oder ein Mittagessen (z.175).





(b) Ask, and Tell-Policys



Da alle Interviewpartner als Grundwerte Transparenz und Ehrlichkeit betont haben, die wie in Kapitel B/II dargestellt auch allgemeine Grundwerte der Polyamorie sind, soll es nun vor allem um die Handhabung der Kommunikation mit und über weitere Partner gehen. W/E verfahren in ihrer Beziehung nach dem Prinzip „you ask – i tell“ und geben dem Partner damit die Möglichkeit selbstbestimmt zu erfragen was und wie viel er über die Beziehung des anderen erfahren möchte (z.532). Hier wird vor allem Rücksicht darauf genommen, dass der Partner selbst entscheiden kann, wann und in welchem Umfang er sich in der Lage sieht, sich mit Beziehungsdetails einer anderen Beziehung zu konfrontieren: „Es ist jetzt auch nicht so, dass mich alles in dem vollen Umfang interessiert, also da habe ich auch gar nicht die Kapazitäten für“ (z.533f.). Da aktuell nur W eine weitere Beziehung führt, erzählt sie E davon, wenn er danach fragt. E sagt, ihn turne es auch an, zu erfahren, was W mit ihrem anderen Partner sexuell erlebt (z.516). W macht deutlich, dass ihr Zweit-Partner eigentlich nicht möchte, dass sie E Beziehungsdetails erzählt (z.515), da sie ihre Beziehungen aber hierarchisiert und E für sie an oberster Stelle steht, kommt sie seinem Bedürfnis nach und erzählt ihm was er wissen möchte. Sie empfindet diese Situation nicht konflikthaft (z.524). Die klare Abgrenzung der Partner in Form einer deutlichen Hierarchie macht ihr die Entscheidung, wessen Kommunikationsbedürfnis sie nachkommt leicht. Gleichzeitig macht W vehement deutlich, dass sie von E nichts über weitere Partnerinnen wissen wollen würde, wenn er eine zusätzliche Partnerin hätte. Sie sagt, dass sie dann eifersüchtig würde und sich mit der anderen Partnerin vergleichen würde. Sie käme besser damit zurecht, wenn die weitere Partnerin eine Unbekannte bliebe (z.537f.). In der Beziehung von P wird die Kommunikation ähnlich gehandhabt, was vor allem daran liegt, dass P weder ein großes Bedürfnis verspürt über seine Dates zu erzählen, noch genau zu erfahren, wie die seiner Freundin waren. Seine Freundin hingegen hat ein größeres Bedürfnis ihre Erfahrungen mit P zu teilen, sodass er ihr zuhört aber klar aufzeigt, wenn ihm etwas zu viel wird und seine Freundin sich vorher erkundigt, ob er in der Verfassung ist zuzuhören. P betont, dass es weniger wichtig sei, sich in allen Einzelheiten über die Erlebnisse mit anderen Partnern auszutauschen, als vielmehr darüber, ob emotional innerhalb der Primärbeziehung alles so ist, wie es war und auch so bleibt (z.342f.). Auch J entscheidet selbst, ob und wann sie etwas über Dates ihrer Freundin erfahren möchte, sie wisse wann ihre Partnerin ein Date habe und auch mit wem, aber sie müsse nun nicht minutiös über den Verlauf des Dates unterrichtet werde (z.217f.). Wichtiger sei auch ihr, dass man in jedem Fall darüber spricht, wenn sich emotional etwas verändert hat, weil man spürt, dass man sich voneinander entfernt, oder eine andere Beziehung an Priorität gewinnt (z.223). Sie betont, dass sie erst lernen musste, sich mit Details aus dem Beziehungsleben mit anderen zu konfrontieren und dass sie heute aber Mitfreude empfindet, wenn ihre Partnerin ihr von schönen Erfahrungen mit anderen erzählt, weil sie auch gelernt habe, dass jeder Moment, mit jeder Person immer einzigartig und nicht wiederholbar sei und sie sich daher nicht mit anderen vergleichen müsse (z.224f.).





(c) Selbstwert und Eifersucht



Die Verdeutlichung davon, wie die interviewten Personen ihr Beziehungsleben miteinander kommunizieren hat auch Unsicherheiten deutlich gemacht. Alle betonten, dass es wichtig sei selbstbestimmt entscheiden zu können, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Tiefe sie sich mit Beziehungsdetails anderer Beziehungen konfrontieren. Dies liegt auch darin begründet, dass die Erzählungen Einfluss auf das Verhältnis zu sich selbst, den Blick auf sich, das Selbstbewusstsein und das Empfinden der eigenen Beziehung nehmen. So gibt J. zwar wie oben beschrieben an, sich heute darüber bewusst zu sein, dass sie sich nicht vergleichen sollte, da jeder Mensch und jede Beziehung einzigartig seien, erzählt aber auch, wie sie zunächst dachte, jede andere Person sei mit Sicherheit sowieso besser im Bett, oder attraktiver als sie selbst (z.225). Sie sagt: „man vergleicht sich plötzlich und bewertet sich“ (z.226). P äußert keine Unsicherheiten mit sich, wohl aber, dass die Gespräche ihm helfen zu spüren, dass sein emotionales Zuhause gleichbleibend stabil ist. E gibt an, dass er eigentlich nicht eifersüchtig ist, aber manchmal störe ihn, wenn W zu viel in der privaten Freizeit mit E mit ihrem anderen Partner kommunizieren würde (z.512). W sagt, Eifersucht sei zwar immer mal wieder Thema, vor allem, wenn es um sexuelle Abenteuer gehe (weil sie es ablehnt einfach nur so mit jemandem Sex zu haben), aber diese sei gar kein massives oder dauerhaftes Thema, eher ihre dahinterstehende Ablehnung rein sexuell ausgerichteter Beziehungen (z.800). Der bereits theoretisch angerissene Blick der Anderen, der Abgleich der Selbstwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung und das übereinbringen dieser Wahrnehmungen werden hier praktisch deutlich. Den eigenen Platz in einem Beziehungsgefüge mit mehr als zwei Menschen zu finden, war für alle ein Entwicklungsprozess in dem sich auch Tools bedient wurde, wie zum Beispiel gewaltfreier Kommunikation (W/E z.322), dem Besuch und Austausch von/mit Stammtischen (W/E z.343 / J z.82), sowie dem Signal über alles (wertfrei) sprechen zu dürfen, wenn und wann man möchte. In diesem Prozess, in dem sich alle Interviewpartner darüber bewusstwurden, wie viel sie über andere Partner erfahren möchten und wann sie Informationen verunsichern ist Teil einer intensivierten Selbstwahrnehmung, die im Kontext von zu ermittelnden Bedürfnissen und benötigten Grenzen entsteht.





(d) Abschnitts-Konklusion



Rücksichtsvolle Kommunikation, die sich an der Aufnahmefähigkeit des Gegenübers orientiert, und zum Ziel hat, allen Beteiligten das Gefühl eines stabilen und konsistenten emotionalen Zuhauses zu bieten, ist in allen interviewten Beziehungen ein Schlüsselelement für ein Gefühl von Verbindlichkeit, Zugehörigkeit und Beständigkeit, trotz sexueller (und emotionaler) Nicht-Exklusivität. Gerade letzteres ist zentral: In polyamoren Beziehungen geht es nämlich nicht (nur) um einvernehmliche sexuelle Nicht-Exklusivität, sondern vor allem darum, dass emotionale Bindungen auch zu anderen Menschen aufgebaut werden. In der regelmäßigen Rückbesinnung mit dem Partner auf das eigene emotionale Zuhause und das Bewusstmachen der Einzigartigkeit einer jeden emotionalen Verbindung in unterschiedlichen Beziehungen liegt offenbar der gemeinsame Pakt, der Paare trotzdem oder vielleicht sogar grade deshalb exklusiv miteinander fühlen lässt. Dies gilt sowohl für ein Gefühl der Exklusivität in einer Primärbeziehung gegenüber bestehenden Sekundärbeziehungen, als auch für ein exklusives Gefühl mit einem Partner unabhängig von Hierarchien und der Anzahl bestehender weiterer Beziehungen. Es scheint wichtig, dass Menschen die Einzigartigkeit der emotionalen Struktur innerhalb ihrer Beziehung erkennen, um sich weniger bedroht durch andere Beziehungen zu fühlen und einen verbindlichen Pakt miteinander schließen zu können.



4.) Selbsterfahrung durch den Kontakt mit Anderen





(a)Neue Selbsterkenntnisse / Der innere Dialog



Alle Interviewpartner berichten, dass die Entscheidung für eine polyamore Beziehung eine verstärkte Auseinandersetzung mit sich selbst nach sich zog, die durch die bereits beschriebenen Phasen von Entfremdung, Wiederannäherung und dem aushandeln von Verbindlichkeiten und Kommunikationsstilen beeinflusst wurde.



„Mit dieser bewussten Entscheidung begann schon auch ein Prozess, also ich musste mich vor allem ganz schön krass mit mir selbst auseinandersetzen, denn ganz viel was sonst selbstverständlich ist in Beziehungen ist das jetzt nicht mehr und man muss plötzlich Agent für die eigenen Bedürfnisse und Wünsche und Gedanken werden, weil du musst ja dann schon irgendwie auch einbringen, was dir so wichtig ist, also wie viel Kontakt brauchst du so, will man sich regelmäßig sehen, sind da noch mehr Partner erlaubt oder nicht, und das sind ja so viele Fragen, das ist echt erstmal überfordernd und man merkt wie man so mega krass über sich nachdenkt und auch nachdenken muss, weil man sonst nicht aktiv im Beziehungsnetz agieren kann.“ (



J, z.99f.)



„(...) und dann sollte man sich als nächstes fragen, und mit sich selbst und seinem Innersten und seinen Gefühlen in Verhandlung treten, ob man das leben möchte oder eben nicht (...)“



(P, z. 210f.)



„ich glaube in Poly wird besonders deutlich, was man [für] persönliche Probleme mit sich rumschleppt und die kommen dann an die Oberfläche und (..) du hast die Verstandesebene und die Gefühlsebene und das in Einklang zu bringen erfordert viel Arbeit an sich und mit dem Partner“



(E, z.770f.)



Polyamorie ist nicht das Standard-Beziehungsmodel unserer Gesellschaft. Es gibt kein Orientierungsmuster oder Vorbilder, die vorgeben, wie man in einer polyamoren Beziehung miteinander umzugehen hat, welche Regeln oder Grundsätze zu beachten sind. Diese Tatsache fordert von den Menschen, die sich für Polyamorie entscheiden, eine umfassende Auseinandersetzung mit sich, um beantworten zu können, was sie innerhalb der Beziehung brauchen, um sich sicher, wertgeschätzt, geborgen und getragen zu fühlen. Beziehungsweise wie sie sich eine solche Beziehung überhaupt – organisatorisch, verantwortlich, zeitlich - vorstellen. Es ist anzunehmen, dass diese Auseinandersetzung mit sich selbst in einer polyamoren Beziehung in einem größeren Ausmaß stattfindet, als in einer monogamen Beziehung, denn alle Interviewpartner hatten zuvor monogame Beziehungen, geben aber diesen Selbsterfahrungsprozess als besonders stark und richtungsweisend erst jetzt in der polyamoren Beziehung an.



Polyamorie wird als Lernprozess mit und über sich selbst verstanden, der nicht an einem bestimmten Punkt endet, sondern stetig weitergeht. J beschreibt dies so: „Ich hab extrem viel über mich gelernt und lerne auch immer noch viel, also weil wenn man so eng mit mehreren ist dann erfährt man ja auch immer nochmal unterschiedliche Perspektiven auf Sachen und das kann schon hilfreich sein“ (z.297f.).



Diese spiegelnde Perspektive durch die anderen Partner erleben die Interviewpartner unterschiedlich intensiv. Bei J ist sie sehr ausgeprägt, sie ist aber auch insgesamt eng mit allen Menschen innerhalb ihres Beziehungsnetzes verknüpft. P hingegen, der sich auch eher emotional abgrenzt von seinen Zweit-, Dritt-Beziehungen, sagt ganz klar, er selbst sei immer der gleiche Mensch in jeder Beziehung und empfinde sich auch in allen Beziehungen gleich und habe nicht das Gefühl sehr viel Neues über sich zu erfahren, eher nochmal in anderen Facetten (z.496). W wiederum wünscht sich diese Spiegelung durch ihre Partner, bekommt sie aber nur von ihrem Primärpartner E. Ihr zweiter Partner sei zu jung und unreflektiert um ihr neue Facetten und Perspektiven an/auf sich aufzeigen zu können, sie spiegle eher ihn und zeige ihm Facetten an ihm selbst auf (z.823f. / z.837f.).





(b) Normal/ Abnormal



Im Zuge der Auseinandersetzung mit sich selbst, den eigenen Wünschen und Ansprüchen an eine polyamore Beziehung fällt vor allem auch immer wieder das Adjektiv „normal“ beziehungsweise „unnormal“ in den Interviews auf.



„(...)hab dann so für mich gedacht, so jetzt möchte ich doch irgendwie normal werden, weil E. mir so wichtig ist und normal bedeutet monogam und dann hab (...) ich ihm die Treue geschworen“



[W/E Z. 62. F.]



„ich liebe ihn so sehr, ich wollte deshalb unbedingt normal werden“



[W/E Z. 95]



„es gab immer andere ja. Und ich wollte einfach normal werden (...)“



[W/E Z.98]



„so normalerweise zieht man ja dann irgendwann so zusammen und plant Zukunft“



(J, z.89)



„wir haben im Grunde eine völlig normale Beziehung.



“ (J, z.163)



„es ist mittlerweile das normalste der Welt für mich, ich muss mich nicht extra outen, wer legt denn fest was normal ist und das ich es nicht bin?“



(z.195)



Allen Interviewpartnern ist bewusst, dass das Beziehungsmodel für das sie sich entschieden haben zunächst gesellschaftlich nicht als normal angesehen wird und dass sie sich bewusst damit auseinandersetzen müssen, um es für sich selbst zu etwas Normalem zu machen.



Ob das Umfeld die eigene Beziehungsform als normal anerkennen kann, hängt offenbar - neben Sozialisations-, Milieu-, und Erfahrungsfaktoren - davon ab, ob das Umfeld eher ländlich oder städtisch ist. So beschreiben W/E deutlich, dass in ihrem dörflichen Heimatumfeld ein öffentliches polyamores Leben nicht möglich wäre, weil man dies als Fremdgehen abstempeln würde, der Sohn schikaniert werden würde und man E als Mann bewerten würde, der seine Frau nicht unter Kontrolle habe (z.737). Auch J mutmaßt, dass die sozialen Sanktionen in dörflichen Regionen noch härter ausfallen, als in der Stadt, wo ein bestimmtes Maß an Anonymität herrscht (z. 63).



(c) Wechsel zwischen den Partnern / Affirmation/ Rituale



Trotzdem die Interviewpartner angeben, sich umfangreich damit auseinandergesetzt zu haben, was sie innerhalb ihrer Beziehungen brauchen und über Kommunikationsstrategien verfügen ihre Bedürfnisse zu verbalisieren, vollziehen sich die Wechsel zwischen verschiedenen Partnern nicht völlig konfliktfrei.



P. äußert, dass er sich zu Beginn der polyamoren Lebensweise schwer damit getan hat, von einer Partnerin nach Hause zu kommen und auf seine Primärpartnerin zu treffen, obwohl er grade noch Sex mit jemand anderem hatte. Er habe sich trotz transparenter Absprache ertappt gefühlt und mit einem schlechten Gewissen zu tun gehabt (z.319f.). Außerdem sei es schon manchmal schwierig mental „umswitchen“ zu müssen. Ihm hat vor allem geholfen, über einen längeren Zeitraum zu erleben, dass sich an seiner Grundbeziehung nichts ändert, auch wenn er Dates hat, um sich sicher und weniger ertappt zu fühlen.



J kann sich nicht vorstellen nach einem Date in ein gemeinsames Zuhause mit jemand anderem heimzukehren und ist froh alleine zu wohnen um nach einem Date wieder bei sich selbst ankommen zu können (z.260).



W sieht es als ihre Verantwortung und Pflicht sich auf dem Heimweg mental wieder auf ihre Familie und ihr Zuhause einzustellen (z.647).



Alle erleben die Übergänge von einer Beziehung zur anderen besonders dann schwer, wenn es in einer Beziehung Streit gibt. So gibt W an, dass sie E sofort auf dem Heimweg informiert, wenn sie Streit mit ihrem zweiten Partner hatte, damit E sich darauf einstellen kann (z.651f.). Auch P gibt an, dass andere Beziehungen vor allem dann Einfluss auf ihn und seine Primärbeziehung haben, wenn es dort nicht so gut gelaufen ist (z.466f.).



Und J, die mit allen Partnern in regelmäßigem Austauscht steht, gibt auch an, dass sie natürlich mitbekommt, wenn bei jemand anderem grade Konflikte oder Streit bestehen und dass sie auch lernen musste, sich aktiv davon abzugrenzen (z.246f.).



Dabei haben W/E und J Rituale entwickelt, die ihnen dabei helfen die Übergänge einfacher zu gestaltet. W/E frühstücken immer gemeinsam und kuscheln viel miteinander, wenn W von ihrem anderen Partner nach Hause kommt. Sie benutzen den Fachbegriff Affirmation und E. betont, dass diese für ihn vor allem körperlich stattfindet, er müsse W nah spüren, im Arm halten, Sex mit ihr teilen, um sich verbunden und sicher mit ihr zu fühlen (z.945f.). Dieses Bedürfnis ist so stark, dass W/E zu einem früheren Zeitpunkt der Beziehung vor und nach einem Date von W beinahe zwingend miteinander Sex haben mussten, damit E sich sicher fühlte und W gehen ließ (z.483). J beschreibt, dass es zwischen ihr und ihrer Partnerin eine Art „Mikrokosmos“ gäbe, der nur zwischen ihnen beiden bestünde, das sei ihr „safe-space“ an den sie sich immer zurückziehen könne, wenn sie sich unsicher oder verloren fühle und dieser sei auch geprägt durch gemeinsame Rituale (z.285). Sie führt dies zwar nicht näher aus, zeigt aber auf, dass sie, trotzdem sie froh ist alleine zu wohnen, Rituale und Verbildlichungen von Zugehörigkeiten braucht um sich sicher zu fühlen.





(d) Geistiges Cleansing



Wie bereits angesprochen gestalten sich die Übergänge zwischen den Beziehungen manchmal schwierig. Um sich mental von Partner A zu lösen und voll und ganz Partner B zuwenden zu können, sprechen J und W von Strategien die sie mit „geistigem Cleaning“ benennen. J gibt an, nach einem Date mindestens einen halben oder ganzen Tag zu brauchen um wieder ganz bei sich anzukommen und alles zu verarbeiten und deshalb froh zu sein alleine zu wohnen (z.258f.). Auch W. sagt: „ich brauche eigentlich 12 Stunden danach zum alleine sein, so zum cleanen quasi“ (z.622) dieses Bedürfnis kann sie, aufgrund des hohen Bedürfnis von E nach Nähe nach einem Date von ihr aber nur bedingt umsetzen.



5. Belastungen und Benefits





(a)Zeitliche Ressourcen



Als Belastung in einer polyamoren Beziehung werden die begrenzten zeitlichen Ressourcen genannt. P spricht von ohnehin begrenzter Freizeit und erforderlichem Zeitmanagement, um möglichst viel dieser Freizeit mit seiner Primärpartnerin verbringen zu können (z.456f.). J gibt an, dass innerhalb ihres stark vernetzten Beziehungsgefüge private Zeit zu zweit manchmal zu kurz käme (z.180). Und auch W/E berichten, dass die zeitlichen Ressourcen, vor allem mit Haus und Kind begrenzt sind, und daher genaue Absprachen erfolgen, welcher Partner wie viel Zeit in Anspruch nimmt. E hat dabei Priorität. Aufgrund der begrenzten zeitlichen Ressourcen, kommt ein weiterer Partner eher nicht in Frage, weil dann E und W’s zweiter Partner von ihrer Zeit einbüßen müssten (z.891f.).



Es herrscht ein Entscheidungszwang in polyamoren Beziehungen, welchem Partner wie viel zeitliche Aufmerksamkeit zusteht. Vor allem in konflikthaften Situationen einer Beziehung, wirkt sich diese häufig emotional, zeitlich, oder kommunikativ auf die anderen Beziehungen aus.





(b) Hoher Kommunikationsaufwand



Alle Interviewpartner geben an vorderster Stelle einen sehr hohen Kommunikationsaufwand in der Beziehung an, der einerseits Voraussetzung für die Beziehung und andererseits belastend ist. E konstatiert sehr deutlich: „Und es ist auch so, dass für mich der Tank an Kommunikation auch einfach voll ist. Also irgendwo ist für mich eine Grenze, wo ich keine Kapazität habe noch über andere und Gefühle und Beziehungen zu reden (...)“ (z.555f.). Auch J beschreibt, dass sie in ihrer Beziehung zwar nicht mehr so viel reden müsse wie zu Anfang, weil vieles einfach eingespielt sei, aber dass Poly nur funktionieren könne, wenn man viel redet, weil man sonst die Perspektive auf die anderen verlieren würde und Unsicherheit entstünde (z.120). Auch P. betont den ständigen Austausch, der wichtig sei um ein stabiles Grundgefühl für die Beziehung zu behalten und sagt gleichzeitig, dass er „die Krise kriege“ und es ihm zu viel sei, wenn er sich ständig zu allem austauschen oder mitteilen müsse (z.399f.). Um Transparenz und Ehrlichkeit miteinander zu leben, die Bedürfnisse der anderen zu sehen und um miteinander in einem Aushandlungsprozess darüber zu bleiben, welche Beziehungen in welchem Umfang toleriert werden können ist die intensive Kommunikation von allen als Schlüsselfaktor benannt und dennoch zeitweise auch als große Belastung empfunden. Der hohe Kommunikationsaufwand nimmt auch viel der begrenzten zeitlichen Ressourcen in Anspruch. Die Interviewpartner betonen, dass es keine Lösung sein könne, in der verbleibenden Paar-Zeit ständig nur über andere Partner und Beziehungen sprechen zu müssen.



(c) Rechtliche Schwierigkeiten (Ehe, Kinder, Erbe)



Als weitere Belastung werden von W und J rechtliche Hürden genannt. W kann ihren Zweitpartner nicht heiraten, genauso wenig wie J ihr Poly-Paar. J erläutert zudem ausführlich, dass es belastend sei, in einem medizinischen Notfall nicht automatisch Entscheidungs-, und Informationsbefugt zu sein (z.273).



(d)Benefits



Neben den positiven Effekten des hohen Kommunikationsaufwands, werden die hinzugekommene Selbsterfahrung und das höhere Bewusstsein über sich selbst und seine Partner durchweg positiv bewertet. Zeit für sich alleine zu haben, in der man sich selbst etwas Gutes tun kann, wird ebenfalls als Pluspunkt angesehen (E z.444 / P z.456 / J z. 271). Außerdem die Möglichkeit in eine andere Lebenswelt eintauchen zu können, aber immer wieder in die vertraute Welt zurückkehren zu können (W z.592f.), und Bedürfnisse, die der eine Partner nicht teilt mit einem anderen erfüllen zu können. So erzählt J lachend, dass sie ganz froh sei, dass ihre Partnerin zu den Tantra-Seminaren mit jemand anderem ginge (z.231f.).



6. Beziehungsalltag / Familie und Feste



Hier soll kurz angerissen werden, dass weitere Beziehungen neben der eigenen (Primär-)Beziehung auch eine Reise in eine andere Welt sein können und wie/ob sich mehrere Beziehungen zu einem gemeinsamen Beziehungsalltag fusionieren lassen.



Bei J kennen sich alle Partner untereinander (z.215). P kennt alle Partner seiner Primärpartnerin und seine Primärpartnerin kennt alle seine Partnerinnen (z.390). Untereinander kennen sich nicht alle. E kennt den zweiten Partner von W flüchtig.



Die Beziehungen von J sind sehr vernetzt, sie kommunizieren in einer gemeinsamen Chat-Gruppe, sodass jeder etwas vom Alltag der anderen mitbekommt und sind auch in Social Media Portalen miteinander verknüpft. Zudem organisieren sie alle drei Monate ein gemeinsames Event, zum Beispiel den Besuch von Theatern oder Konzerten(z.177f). Sie beschreibt, dass es bei gemeinsamen Treffen auch Verunsicherungen geben kann, wer neben wem sitzt, wer mit wem Händchen hält und innig ist, aber dass sie sich da von ihrer Intuition leiten lässt und gut damit zurechtkommt (z.251f.) Sie scheint alle Partner und wiederum deren Partner gut in einen gemeinsamen Alltag integrieren zu können. Das Beziehungsgeflecht stellt eine Art Mikrokosmos in der realen Welt dar (sie verwendet den Begriff Mikro-Kosmos selbst z.183f.). J hat Heiligabend mit den Eltern ihres Poly-Paar gefeiert, sowohl ihre Familie, als auch die ihrer Partner sind vollständig informiert über die Art der Beziehung und tolerieren diese auch.



W würde sich mehr Verschmelzung der verschiedenen Beziehungen wünschen und gerne auch Familienfeste zusammen feiern, dieser Wunsch bleibt aber aus Rücksichtnahme E gegenüber auf der Strecke (z.688f.). E kann sich vorstellen, mal im Café zusammen Kaffee zu trinken, empfindet ein grundsätzlich eher distanziertes Verhältnis zum Zweitpartner von W aber förderlich und gut um sich gesund von dieser Beziehung abgrenzen zu können und bei Streitigkeiten nicht zwischen den Stühlen zu stehen (z.671f. / z.698). Die Lebenswelten in diesem Beziehungsgefüge sind klar voneinander getrennt, Familie, Feste und das Zuhause sind Privilegien, die nur W und E miteinander teilen. Ihre Familien sind nicht darüber informiert auf welche Art sie ihre Beziehungen leben, sie fürchten Sanktionierung und Unverständnis. (z.713).



P legt nicht so viel Wert auf den gemeinsamen Austausch und die regelmäßigen Treffen mit anderen Partnern aus dem Beziehungsnetz. Ihm würde das auch zu viel werden, sich in alle Richtungen innerhalb des Geflechtes austauschen zu müssen (z.396f.). Generell hält er gemeinsame Geburtstage und Feste jedoch für möglich, sie fanden bisher nur nicht statt, weil er selbst keinen Wert auf diese Feierlichkeiten legt (z.424f.). Seine Familie ist darüber informiert, dass er polyamor lebt (z.431f.) aber er gibt keine Details preis und spricht nur auf Nachfrage darüber, da seine Familie Polyamorie mit Fremdgehen gleichstellt (ebd.).



7. Zukunftsorientierrngen





(a) Räumlich



P und E wünschen sich, dass alles einfach so bleibt wie es ist (P z.531, E. 870f. und 914f.). W und J hingegen wünschen sich mit allen Partnern räumlich näher zusammenzuleben (W z.606, J z.297). W kann sich auch vorstellen räumlich getrennt von E zu leben, um mehr Freiheiten für sich zu haben, sagt aber selbst, dass diese Vorstellung niemals real wird, da dies ein No-Go für E wäre, der sich dann weggeschoben fühlen würde (z.870).



(b)Menschlich



Hier sind sich alle einig, dass die bestehenden Beziehungen idealerweise alle bestehen bleiben sollen. W/E verhandeln noch darüber, ob Raum und Kapazität wäre für einen reiferen dritten Partner von W, den sie sich wünscht, dafür aber ihren bestehenden Partner nicht aufgeben möchte, obwohl sie rational auch unsicher darüber ist, ob die Partnerschaft bis an das Lebensende halten wird (z.879f./ 891f.).



In allen Interviews fallen beinahe pathetische und poetische Schlussworte. So sagt P, dass es ihm vordergründig darum ginge in Zukunft miteinander in einem guten, konsistenten und ehrlichen Kontakt zu bleiben und dabei auch die Verschiedenheit der Partner zu akzeptieren, denn durch diese Akzeptanz könne man auch als Fisch an Land laufen und als Fledermaus schwimmen, man würde sich gemeinsam überallhin tragen (z.535f.). J betont, dass man sich in polyamoren Beziehungen mutmaßlich stärker binden und festlegen würde als in monogamen, weil Treue nicht selbstverständlich sei und das gemeinsame Bekenntnis zueinander von Loyalität geprägt sei (z.305f.). W betont erneut, dass man sich als polyamores Paar gegenseitig begrenzen müsse um miteinander freier zu werden und gemeinsam alt werden zu können (z. 952f.).



Alle Interviewpartner wollen an ihrem Beziehungskonstrukt festhalten und innerhalb ihrer Beziehungen gemeinsam wachsen und alt werden. Auch hier wird erneut die langfristige, verbindliche und loyale Ausrichtung dieser Beziehungen deutlich

F) Reflexion des Forschungsvorgehen

Die Wahl des problemzentrierten Interviews erscheint auch im Nachhinein als richtig, denn es konnte gewährleistet werden, ein thematisch strukturiertes Interview zu führen, ohne den Interviewpartnern zu viel Raum zum freien erzählen zu nehmen. In allen Interviews wurde der Leitfaden nur selten benötigt, da alle Interviewpartner in einem sehr guten Erzählfluss waren und die Leitfragen nur gelegentlich genutzt werden mussten, um das Gespräch wieder in eine andere Richtung zu lenken. Damit hat der Interviewleitfaden seine angestrebte Funktion vollumfassend erfüllen können.

Die Auswertungsmethode der qualitativen Inhaltsanalyse hat sich als sinnvoll ergeben, da der Umfang des Materials sehr groß war und eine Zuordnung der Gesprächspassagen in Kategorien das Material übersichtlicher und vergleichbarer gemacht hat..

Die Interviewpartner wurden über drei gänzlich unterschiedliche Wege akquiriert, was sich als wichtig herausstellte, um ein möglichst differenziertes Bild trotz der geringen Anzahl von Interviews zu bekommen. Da polyamor lebende Menschen nur einen kleinen Prozentsatz der Gesellschaft ausmachen, hätte eine Akquise über nur einen Polyamorie-Stammtisch (beispielsweise), dazu führen können, das fehlerhafte Schlüsse aufgrund eines einheitlichen sozialen oder räumlichen Milieus gezogen werden. Somit erscheinen die aufwendigen Mobilisierungsbemühungen im Zuge der Akquise als notwendig und gerechtfertigt.

Die Kontaktaufnahme sowohl über Veranstaltungen, als auch das Internet und den Bekanntenkreis haben ein breiteres Bild von Menschen in polyamoren Beziehungen ermöglicht. Die dennoch feststellbaren Gemeinsamkeiten im Erleben und den Zugängen und Begründungen der polyamoren Beziehung erscheinen nun trotz geringer Interviewanzahl ein hohes Maß an intersubjektiver Übereinstimmung aufzuweisen. Insgesamt war die Interviewbereitschaft sehr hoch und das Feedback der zum Interview bereiten Personen durchweg positiv sich mit diesem, ihrer Aussage nach gesellschaftlich zunehmend relevanten Thema wissenschaftlich auseinanderzusetzen.

Das offene Bekenntnis der Forscherin selbst polyamor zu leben, hat in allen Interviews zu einer deutlichen Reduktion von Erzähl-Hemmschwellen geführt. Dies teilten die Interviewpartner auch mit, sie hätten so nicht das Gefühl mit einer „nüchternen Fachidiotin“ zu sprechen und hätten größere Hoffnung, dass ihre Erzählungen richtig verstanden und interpretiert würden, als von jemanden der lediglich einen theoretischen Bezug zum Thema habe.

Aufgrund fehlender Vergleichsstudien können die Ergebnisse nur in Ansätzen mit anderen Ergebnissen verglichen werden und dem Ziel der Validierung durch Triangulation gerecht werden. Lediglich zu den Ergebnissen von Friedwagner ließen sich Bezüge herstellen.

G) Fazit und Ausblick

Die Ergebnisse der Interviews haben ein differenziertes und vielschichtiges Bild erzeugen können, wie Menschen polyamor leben und sich selbst innerhalb ihrer Beziehungen erleben und positionieren. Abschließend soll nun der Versuch unternommen werden, die Frage nach Identitätskonstruktion und Kohärenzgefühl in und durch polyamore Beziehung zu beantworten.

Abels (2017) konstatiert in seinem Buch „Identität“ mit einem Zitat von Berger, dass das Individuum, immer dann, wenn es das Gefühl bekomme, dass „immer mehr mit immer mehr zusammenzuhängen scheint“ (S.406) versuchen würde, seine private Lebenswelt im Gegensatz zur überfordernden und komplexen Außenwelt so zu gestalten, dass sie „ihm eine Ordnung integrierender und schützender Sinngehalte liefert. Mit anderen Worten, der Mensch versucht, eine ‚Heimatwelt’ zu konstruieren und zu bewahren, die ihm als sinnvoller Mittelpunkt seines Lebens in der Gesellschaft dient“ (Berger, 1973, S.61).

Sicher gestalten polyamor lebende Menschen sich auch eine solche Heimatwelt, häufig gefallene Begriffe wie „emotionales Zuhause“, „Mikrokosmos“ oder „Hafen“ sind neben benannten Privilegien, wie dem Ehebett oder dem „heiligen“ Zuhause in der Ergebnisdarstellung deutlich geworden und zeugen vom Bedürfnis nach einer Heimatwelt – emotional wie dinglich.

Es ist jedoch zu mutmaßen, dass das Erschaffen von Heimatwelten in polyamoren Beziehung nicht immer der einfachste Weg für Individuen ist. Auch dies wurde in den Ergebnissen vor allem in den Abschnitten Entfremdung, Wiederannäherung und Selbstwahrnehmung und –erleben deutlich. Die Heimatwelt soll dem Zweck dienen, sich in Abgrenzung zur komplexen Außenwelt eine überschaubare und beherrschbare Innenwelt zu schaffen. Polyamor lebende Menschen müssen offenbar besondere Bemühung investieren, ihre Heimatwelt überschaubar und Sicherheit-stiftend zu gestalten, denn von Natur aus ist sie das in einer solchen Beziehungsform nicht und kann es, aufgrund der Komplexität die mehrere Beziehungen und Menschen in die Innenwelt einbringen auch gar nicht sein.

Wie der hohe Kommunikationsaufwand zeigt, findet ein stetes Überdenken innerhalb der Beziehungen statt, wie viele Ressourcen in die weiteren Beziehungen investiert werden, wie viel Zeit diese in Anspruch nehmen und nehmen dürfen und in welchem Intensitätsrahmen sich die weiteren Beziehungen befinden (dürfen). Kontinuierliches reflektieren, überdenken und neu aushandeln sind zentrale Bestandteile der polyamoren Beziehung.

Im Beziehungsgefüge gibt es demnach zeitliche, organisatorische und Intensität betreffende Stressoren, die zu einer selbstgewählten Begrenzung der Interviewpartner innerhalb ihrer Beziehungen führen. Freiwillige Begrenzung ermöglicht es den Interviewpartnern sich sicher und stabil in ihren Beziehungen zu fühlen. Eine bewusste Begrenzung der Beziehungen im Hinblick auf Anzahl, Zeit und Intensität scheint notwendig, um die verschiedenen Beziehungen emotional und zeitlich integrieren zu können und ihren spezifischen Anforderungen nachkommen zu können, ohne sich dabei innerlich zerrissen zu fühlen.

Ohne diese freiwillige Begrenzung scheint das Individuum in der polyamoren Beziehung einem permanenten Entscheidungsdruck ausgesetzt, da die Handlungsspielräume potentiell unendlich sind und die Beziehungen keiner logisch-normativen Begrenzung ausgesetzt sind. Der Aushandlungsprozess von Regeln, Rahmen und Absprachen scheint wesentlich für alle Interviewpartner, um sich mit sich selbst und den Beziehungen kohärent fühlen zu können.

Kommunikationsarbeit und verbale Verträge darüber, in welchen Grenzen die Beziehung(en) gelebt werden dürfen sichern das Individuum ab, ermöglichen ihm einen Fixpunkt im Beziehungsnetz und die Integration der Beziehungen in einen gemeinsamen Alltag.

Es herrscht unter den interviewten Personen keine generelle Ablehnung des Konzepts der Monogamie, aber ein In-Frage-Stellen aufgrund aufgedeckter Widersprüche zwischen dem Monogamie-Bestreben der meisten Menschen innerhalb der Gesellschaft, bei gleichzeitig bestehender häufig nicht erfüllter Treueerwartung. Besitzdenken in Partnerschaften und Konkurrieren zwischen Partnern werden abgelehnt. Die sozialen Identitäten dieser Menschen verändern sich durch die Ablehnung/ Kritik an der Norm. Die zeitgleiche Argumentation und Verteidigung eigener Wertvorstellungen und Prinzipien kann für das Kohärenzgefühl förderlich sein. So fühlt sich das Individuum nicht einfach anders als es die Norm vorgibt, sondern kreiert einen eigenen Orientierungsrahmen, eine eigene Norm.

Die bewusste Entscheidung für die Polyamorie, kann als Versuch gedeutet werden, den gesellschaftlichen Anspruch an Treue und die eigenen Erfahrungen von Untreue in ein Beziehungsmodel zu integrieren, das ermöglicht, sich selbst kohärenter wahrzunehmen und Beziehungen zu (er-)leben, in denen Treue und Untreue nicht mehr widersprüchlich zueinanderstehen, weil Treue nicht mehr an sexuelle Exklusivität gebunden ist und emotionale Exklusivität mit jedem Partner auf individuelle Art und Weise besteht.

Identitätskonstruktion wird des Weiteren als konstanter Entwicklungsprozess verstanden, in dem sich das Individuum durch die Auseinandersetzung mit sich selbst, Bedürfnissen und Grenzen besser kennenlernt und durch Außenperspektiven unterschiedlicher Beziehungspartner teilweise auch neu entdecken kann. Diese Identitätsarbeit scheint in polyamoren Beziehungen in einem größerem Umfang und Ausmaß stattzufinden und wird von den interviewten Personen als positiv und Kohärenz-fördernd bewertet. Das Identitätsverständnis der Interviewpartner ist überwiegend pluralistisch und bestätigt daher die Verwendung postmoderner Perspektiven auf das Thema Identität. Sie erleben sich selbst in einer pluralisierten Lebenswelt und berichten alle auf unterschiedliche Art und Weise davon, dass Menschen heute mehr Möglichkeiten haben, mehr Entscheidungen treffen müssen und sich häufig entgrenzt fühlen (vgl. J z. 69, P z.122f./z.144f./z.157f.).

In der Beziehungsgestaltung und -verhandlung wird dabei eine starke Ich-Perspektive eingenommen, um als „Agent für die eigenen Bedürfnisse“ (J z.102) eintreten zu können. Dabei wird die Perspektive des anderes jedoch nicht aus dem Blick verloren, gegenseitige Rücksichtnahme ist in allen Beziehungen deutlich zu erkennen. Die eigene Integrität mit sich wird höher bewertet als ein unbedingter Konsens. In allen Interviews wurden Themenbereiche deutlich, in denen die Partner nicht einer Meinung waren, aber statt einen Konsens zu finden, die Verschiedenheit akzeptieren konnten.

Es scheint vor allem Selbsttreue zu sein, und damit ein kohärentes Bild von sich und den eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen an eine Beziehung, die den klassischen und mit sexueller Exklusivität verbundenen Treuebegriff ablöst. Selbsttreue scheint der Schlüssel zu erfüllenden (polyamoren) Beziehungen. Diese Selbsttreue kann zu Konflikten mit dem familiären oder beruflichen Umfeld führen, sodass die meisten Interviewpartner von Lebensbereichen berichten in denen sie sich als inkohärent und nicht anerkannt empfinden. Dies wird durch den Kontakt mit anderen polyamoren Menschen, zum Beispiel auf Stammtischen kompensiert. Durch diesen Austausch und die Erfahrung, dass es anderen polyamoren Menschen ähnlich geht kann schlussendlich doch eine kohärente Selbstwahrnehmung ermöglicht werden.

Die polyamore Beziehung aller Interviewpartner kann als konstante Identitätsarbeit verstanden werden, da ein andauernder Prozess der Auseinandersetzung mit sich selbst, Bedürfnissen und Grenzen vollzogen wird. In diesem Prozess geben alle Interviewpartner an, sich selbst besser kennen, verstehen und begreifen zu lernen und damit auch ein tieferes Verständnis über ihre Partner und Beziehungen zu erlangen.

In polyamoren Beziehungen scheint die Identitätsarbeit bewusster und umfangreicher stattzufinden als in monogamen, da die polyamore Lebensweise keine vorgefertigten Orientierungsrahmen bietet.

Abels diskutiert im letzten Kapitel seines Werks „Identität“ inwieweit das Individuum gesellschaftliche Normen und Widersprüche auflösen kann und diese – zur erfolgreichen Integration und Sicherung seiner Identität – umdeuten, neu auslegen, oder verändern kann. Dazu zählt er verschiedene Kompetenzen auf, „die dem Individuum helfen können, sich seiner Identität in gegebenen Verhältnissen bewusst zu werden und sie auch gegen die Verhältnisse und die Vereinnahmungen durch die Anderen zu behaupten“ (S.427) um schlussendlich dem Selbsttreue-Anspruch nachkommen zu können. Diese Kompetenzen sind: ‚Diskurskompetenz’, ‚Dem Leben einen Sinn geben und sich in seinem Zentrum wissen’, ‚Permanente Passungsarbeit’, ‚Bewegliches Denken’ und schlussendlich ‚Mut’ (ebd.). Liest man die Beschreibung dieser Kompetenzen im Hinblick auf die Frage nach Identitätskonstruktion und Kohärenz in polyamoren Beziehungen so fällt auf, dass polyamor lebende Menschen viele dieser Kompetenzen selbstständig erkennen, anwenden und beschreiben. Die Diskurskompetenz sieht beispielsweise die Fähigkeit des Individuums einen Diskurs zu führen als höchste Kompetenz an, denn mit dieser Fähigkeit gelinge es, sich selbst, Andere, die Perspektive von anderen auf sich und die als gegeben angesehenen Lebensrealitäten zu prüfen, hinterfragen und verbalisieren. Dabei wird vor allem betont, dass ein rationales Bewusstsein der Realität und der eigenen Vorstellungen dieser vorhanden und reflektiert sein müssen (vgl. ebd. S.428f.). In den Interviews konnte deutlich aufgezeigt werden, dass alle Interviewpartner außerordentliche Kommunikationsarbeit in ihren Beziehungen leisten und ihre Vorstellungen von der Beziehung immer wieder mit der Realität abgleichen und aushandeln. Sie erfüllen diese Kompetenz und können damit offenbar dazu beitragen, sich kohärent zu erfahren. Die zweite Kompetenz besagt, dass das Individuum in der Lage sein soll, seine Lebensrealität „unter der Perspektive des Möglichen“ (ebd. S.431) zu überdenken. Herausragender Schlüsselfaktor ist hier „das Gefühl von Bedeutsamkeit“ (ebd. S.432), denn dieses suggeriert dem Individuum, dass die vom Leben gestellten Aufgaben es wert sind, sie zu lösen und dabei unter Umständen zum Beispiel einen hohen Kommunikationsaufwand in Kauf zu nehmen. Alle Interviewpartner sind sich der Benefits ihres polyamoren Lebensstils bewusst und sehen die damit einhergehenden kommunikativen und zeitlichen Belastungen als wertig an, in Kauf genommen zu werden. Die permanente Passungsarbeit als dritte Kompetenz beschreibt die alltägliche Identitätsarbeit, die zur Aufgabe hat, verschiedene Teil-Identitäten miteinander in Form von Identitätsprojekten zu verknüpfen (vgl. ebd. S. 433) und dabei sowohl Vergangenheit, als auch Gegenwart und Zukunft einzubeziehen. Es wird betont: „Passung heißt nicht, dabei eine durchgehende Einheitlichkeit des Denkens und Handelns zu zeigen (vielleicht nicht einmal zu wünschen!) oder den Abschluss eines Projektes zu intendieren“ (ebd.), was erneut betont, dass die Kohärenz sich vor allem aus der Verschiedenheit der Identitäts-Fragmente speist und die von den Interviewpartnern beschriebene konstante Identitätsarbeit auch als Passungsarbeit bezeichnet werden kann, die zu einer kohärenten Selbstwahrnehmung beiträgt. Das „bewegliche Denken“ als vierte Kompetenz trifft auf polaymor lebende Menschen insofern zu, als dass sie ihre Beziehung(en) und Ansprüche, Verträge, Regeln permanent neu aushandeln. Sie bleiben beweglich in ihrem Denken über ihre Beziehungen und sehen nichts als festgesetzt an, nachdem es einmal besprochen wurde. Die letzte Kompetenz „Mut“ besteht wohl bei allen Interviewpartnern offenkundig, denn sie haben mit ihrer Wahl des Beziehungsmodels den Mut, sich von einer Beziehungsnorm loszusagen und damit übliche selbstverständliche Sicherheiten erst aushandeln zu müssen. Es geht aber auch um den Mut, das eigene Leben so zu gestalten, dass es sich erfüllend anfühlt und das Individuum sich glücklich mit diesem Leben fühlt. Zu Mut gehört nach Abels vor allem Vertrauen. Abels schreibt zu Vertrauen, und das ist im Kontext Polyamorie sehr passend: „Es ist nicht so, dass man es hat oder nicht, sondern man kann es auch nachträglich aufbauen. Und es darf nicht vergessen werden, dass Vertrauen zwar aus der Verlässlichkeit der Beziehungen zu Anderen entspringt, dass es im Ergebnis und in der Form aber vor allem Vertrauen in sich selbst ist!“ (ebd. S.438). Polyamor lebende Menschen müssen sich selbst und ihren Partnern vertrauen können um sich sicher zu fühlen, Verlässlichkeit zu empfinden, aber auch um darauf zu vertrauen für sich und die eigenen Bedürfnisse einstehen zu können. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass alle Interviewpartner diese Kompetenzen in hohem Maß besitzen, anwenden und deren Notwendigkeit selbstständig beschreiben, ohne fachliche Kenntnis dieser zu besitzen.

Polyamorie verhilft also offenbar dabei, sich selbst in seinen unterschiedlichen Facetten besser zu begreifen und ein erweitertes Verständnis seiner selbst durch die verschiedenen Perspektiven auf sich zu erlangen. Damit kann die bereits in Kapitel B/III zitierte Mutmaßung Barkers’ (2005) mit den Ergebnissen aus diesen Interviews nur bestätigt werden.

„It seems that polyamory has the capacity to help people to explore the different facets of themselves and perhaps come to alternative understanding of self identity through the different ways they might see themselves reflected in the eyes of others they are closely involved with“.

Für zukünftige Forschungen wäre eine Bezugnahme zu Bindungstheorien und -stilen sicher interessant. Polyamorie ließe die Mutmaßung zu, ob Menschen, die sich für dieses Beziehungsmodel entscheiden eher ängstlich-vermeidende Bindungsstile leben um tieferen Bindungen auszuweichen, oder gerade Menschen mit sicherem Bindungsstil und großem Vertrauen prädestiniert sind, sich für dieses Beziehungsmodel zu entscheiden. Ebenso wäre eine Betrachtung zum Umgang mit Ratgeberliteratur in polyamoren Beziehungen und der praktischen Anwendbarkeit dieser vorstellbar. Eine Befragung von Menschen mit Untreue-Erfahrungen, ob Polyamorie eine Alternative für diese Erfahrung darstellen kann, wäre genauso von Interesse. Eine quantitative Beurteilung der Stressoren in polyamoren Beziehungen, deren Intensität und auch der Häufigkeit der Nutzung von Hilfsmitteln zur Orientierung wie zum Beispiel Stammtischen und Ratgebern wäre ein weiterer möglicher Anknüpfungspunkt für zukünftige Forschungen.





von Victoria Fushicho 29. Mai 2024
Jörg und ich waren über Pfingsten zu Gast im Karada House in Berlin und Teilnehmende, bei dem dort stattgefundenen Semenawa Workshop, welcher von Naoko und ihren Modellen gehalten wurde. Das Karada House ist ein von mehreren Personen geführter queerer Ort für LGBTQIA+ Personen und anderen Menschen marginalisierter Gruppen. Sowohl Jörg als auch ich, verarbeiten dieses Wochenende noch immer, sowohl inhaltlich als auch emotional. Dennoch möchte ich meine Erfahrungen und die durch das Wochenende angestoßenen Gedanken mit euch teilen. Dieser Eintrag widmet sich allein den Eindrücken, welche ich im Space von Karada House gemacht habe und weniger dem Workshop oder den Inhalten. Vor jedem Workshop den wir besuchen, verspüre ich immer eine Aufregung und auch eine Art Unsicherheit, bezüglich der Tage die auf mich zukommen, der Menschen welchen ich begegne und letztlich auch ob ich als Modell „gut durchhalte"- was auch immer gut durchhalten bedeutet. Dieses Mal war ich nicht weniger aufgeregt, doch meine Unsicherheiten waren nebst den bekannten auch andere; bin ich achtsam genug, bin ich überhaupt queer oder marginalisiert genug dort zu sein, was, wenn ich versehentlich Menschen falsch lese oder misgendere…ihr könnt es euch vorstellen, mein Stressball war auf Anschlag. Kleiner Einschub, ich habe eine Person misgendert, mich korrigiert und mich bei der Person entschuldigt- Fehler passieren- das ist nicht das Ende der Welt, unser Umgang in so einer Situation entscheidet allerdings ob sich die betroffene Person mit uns sicher fühlt oder nicht. Ich habe das Karada House als offenen, gemeinschaftlichen Ort erlebt, indem ich mich eingeladen fühlte einfach sein zu können und was ich mitzubringen hatte vollkommen ausreichend war. Ein Ort des Austausches, des Wohlwollens, weg von Konkurrenz und einer Instagram/ „wir fesseln nur für Fotos" Mentalität. Einen Ort an dem sich die Menschen nacheinander in den Pausen erkundigten. „Was ist dein Bedürfnis? Brauchst du was? Hast du genug gegessen/ getrunken? Möchtest du dich zurückziehen?“ Noch nie habe ich einen Space besucht, welcher so divers war, wie dieser- schön und auch schade zugleich. Das soll keine Lobhudelei darauf werden wie toll alles war, durchaus gab es Dinge, die ich persönlich anders machen würde, dennoch hat sich mein Aufenthalt sicher für mich angefühlt- ich war durchaus oft von den Eindrücken überfordert, aber ich habe mich sicher und für dieses Wochenende, als Teil einer Community gefühlt. Keinesfalls möchte ich andere Spaces oder Veranstaltungen herabsetzen, dennoch wirft dieses Wochenende in Berlin unweigerlich die Frage danach auf, was mir in anderen Spaces und Veranstaltungen gefehlt hat?! Welche Verantwortung haben wir als Veranstaltende, wenn es darum geht den organsierten Workshop und oder den Space sicherer zu machen? Wie werden Menschen einbezogen, eingeladen, angesprochen? Werden sie überhaupt inkludiert? Ein Space, ein Workshop oder eine Veranstaltung werden nicht sicherer, weil man sich ein Label aufgeklebt hat, Communities entstehen nicht einfach von alleine, weil Menschen mit einer gemeinsamen Leidenschaft zusammenkommen und es fühlen sich auch nicht alle Menschen angesprochen weil auf einer Homepage die Floskel „hier sind alle willkommen* steht - dazu fällt mir ein Zitat ein, ich weiß leider nicht mehr von wem „werden Menschen nicht aktiv einbezogen, werden sie passiv ausgeschlossen...* Mir ist durchaus auch klar, dass Vielfalt etwas ist, welches sich natürlich entwickeln muss und die Diversität in Spaces hängt nicht selten von der jeweiligen Verortung ab. Doch, einen Space zu eröffnen, Workshops zu hosten, Veranstaltungen zu organisieren, ist ein wichtiger Anteil innerhalb der Szene, dem Macht und vor allem Verantwortung innewohnt. Wir bereiten die Basis dafür, dass sich Menschen bei uns wohl, geschützt und gesehen fühlen. Wir haben Einfluss darauf wer Zutritt erhält, wie mit Konflikten umgegangen wird und ob und wie Konsequenzen bei Missachtung oder Fehlverhalten resultieren. Und wir sollten mit gutem Beispiel voran gehen, einen Werte und Ethik Kompass zu etablieren, an dem sich andere orientieren können und den wir ungeachtet freundschaftlicher Beziehungen zu anderen innerhalb der Szene auch einhalten. Ich werde von den Eindrücken dieses Wochenendes noch eine Weile zehren, fand viel Bestätigung in unserer eigenen Art einen Space zu führen und konnte positive Dinge für uns mitnehmen. Solltet ihr mit dem Gedanken spielen, dass Karada House einmal zu besuchen/ einen Workshop dort zu besuchen, TUT ES.
von Fushicho 15. Januar 2024
Basic Infos für alle Menschen, die mit dem Fesseln beginnen von Seilmaterialien über Verletzungspotentiale und Konsens Kultur.
von Lecia Fushicho 11. November 2023
Muganawa - Vollkommen präsent im Moment sein und ohne Ziel und ohne festes Bild fesseln
von Fushicho 27. Juni 2023
Keines dieses Tools ersetzt eine Beratung / Therapie. Es kann zu Anwendungsfehlern kommen, wenn die Übungen ohne professionelle Anleitung durchgeführt werden. https://sexualtherapie-beziehungstherapie.de/uebungen/ BodyScan / Orgastische Welle / Orgasmic Yoga https://www.sexmedpedia.com/sensate-focus-uebungen/ https://www.beziehungsdynamik.de/uebungen/sensate-focus/ Sensate Fokus Übung https://happylibido.org/sexualtherapie-uebungen/ Sexuelle Erregungskurve, Erregungsreise / Öffnung Der Ursprung der Welt von Liv Strömquist https://www.avant-verlag.de/comics/der-ursprung-der-welt/ Come as you are https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1058704673 Liebe deine Vulva https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1053040431 Vulvina Malbuch https://www.amazon.de/Vulvina-Coloring-Book-Natacha-Colin/dp/3910590004 The Vulva Gallery https://www.thevulvagallery.com/webshop/vulvacat-variety Penis Malbuch https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1046486034 Slut-Shaming, Whorephobia, and the Unfinished Sexual Revolution https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1059557085 How To Be A Confident Hoe... Because slut shaming Is Over https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1047465118 Sakral Chakra Meditation zur Unterstützung im Auflösen von Blockaden https://femininevibe.podigee.io/b31-geleitete-meditation-sexuelle-blockaden-aufloesen Yoni und Lingam Massage (die Massage der Genitalien) z.B. in Form von "Handarbeitsabenden" die regelmäßig angeboten werden Check-In mit deinem Genital https://spuervertrauen.de/check-in-genital/ Übungen zur bewussten Körperwahrnehmung und zum In-Kontakt-Kommen mit deinem Genital https://spuervertrauen.de/gratis-uebung-meditation-sexualitaet/ Vaginismus https://de.wikipedia.org/wiki/Vaginismus Ganz viele tolle kurze Veröffentlichungen jenseits des binären Geschlechtersystems: https://www.transfabel.de/index.php?main_page=index&cPath=61_28
von Fushicho 27. Juni 2023
Zu alt, zu arm, zu queer, nicht queer genug – auch wenn Lesben, Schwule, bisexuelle, trans* oder inter* Menschen unter sich sind, fühlen sich nicht alle gleichermaßen willkommen und respektiert. Victoria spricht in diesem Podcast über ihre Erfahrungen innerhalb der queren Community, über schwarz sein und Tokenism, über Pansexualität und Sexualisiert werden, über Polyamorie und Slut-Shaming. Über White Passing und darüber, dass Schwarz keine Farbe ist. Vor allem aber darüber, dass ALLE Menschen lernen sollten einander zuzuhören, in einen echten Dialog miteinander zu gehen, voneinander zu lernen, übereinander zu lernen und niemand jemals "perfekt anti-diskriminierend" sein wird.
von Fushicho 7. Februar 2023
Mit anderen Frauen Sex haben ist völlig okay, aber mit einem anderen Penis nicht? Warum das ziemlich unlogisch ist erklären wir dir hier im Beitrag zur One Penis Policy.
von Fushicho 7. Februar 2023
Was macht Sexualität aus und was macht Intimität aus? Oftmals wird in einer Beziehung vorausgesetzt, das klar ist wie der gemeinsame Sex oder die gemeinsame Intimität aussehen. Meistens lohnt es sich darüber zu sprechen!
von Fushicho 7. Februar 2023
Eifersucht in offener oder polyamorer Beziehung ist ganz normal. Sie ist ein Gefühl wie jedes andere auch und möchte dir etwas über deine Ängste und Bedürfnisse mitteilen.
von Fushicho / Sexualberatung 27. Januar 2022
Theoretisch haben wir alle in der Schule gelernt, dass es sexuell übertragbare Krankheiten gibt, welche das sind und wie man sich schützen kann. Ja. Theoretisch. Mehrheitlich waren diese Unterrichts-Situationen doch eher unangenehm, man war froh, wenn das Thema durch war und dachte sich: 1.) Wird mir schon nicht passieren ich bin ja informiert 2.) Wenn ich darauf achte Kondome zu nutzen, geht es schon gut 3.) Das betrifft ja nur Leute, die rumhuren Zu 1.: Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat 2016 die " Strategie zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragbaren Infektionen “ vorgestellt. Im Rahmen dieser Strategie wurde eine Umfrage zu Gesundheit und Sexualität in Deutschland (GeSiD) unter knapp 5.000 Teilnehmern zwischen 18 und 75 Jahren durchgeführt. Ein Teil dieser Studie beschäftigt sich mit der Bekanntheit verschiedener sexuell übertragbaren Infektionen. HIV/AIDS war mit Abstand die bekannteste STI (71 Prozent). Danach folgt mit knapp 40 Prozent Gonorrhö (auch Tripper genannt) und mit gut 30 Prozent Syphilis. Etwa jedem zehnten Deutschen sind Chlamydien, Genitalherpes und Hepatitis B als Geschlechtskrankheiten geläufig. Seltener wurden Genitalwarzen, Filzläuse und Trichomonaden genannt. Vergleichen wir diese Ergebnisse mit den häufigsten Geschlechtskrankheiten Deutschlands: Chlamydien Trichomonas vaginalis Gonokokken /Gonorrhö (Tripper) Sowohl Chalmydien, als auch die Trichomonaden sind nur mindestens jedem zehnten Deutschen geläufig. Das ist ein Missverhältnis zwischen Häufigkeit und Bekanntheit. Zu 2.: Kondome schützen sicherlich vor vielen sexuell übertragbaren Krankheiten. Allerdings können die Erreger auch über den Mund und die Hände übertragen werden, wenn diese Kontakt mit Genitalien haben. Der Blowjob gehört zu den zweit-beliebtesten Sexualpraktiken, wird aber nur in sehr seltenen Fällen mit einem Kondom praktiziert. Dass es für Oralsex an der Frau auch "Kondome" gibt, sogenannte Lecktücher (alternativ funktionieren auch aufgeschnittene Gummihandschuhe/ Frischhaltefolie) ist nur wenigen bekannt. Sich alleinig auf das Verwenden von Kondomen bei penetrativem Sex zu verlassen ist also keine gute Idee. Zu 3.: Das ist eine extrem Vorurteils-Behaftete Vorstellung. Geschlechtskrankheiten haben nichts damit zu tun "rumzuhuren" und dieser Begriff assoziiert, dass Huren (SexarbeiterINNEN, Prostituierte) grundsätzlich "schmutzig" und mit einem Risiko sich zu infizieren versehen wären. Das ist ein Stigma. Und es entspricht keiner Realität. Jeder Mensch, der Sex hat, kann sich auch mit einer sexuell übertragbaren Krankheit infizieren. Punkt. That's it. Genauso, wie jeder Mensch eine Magen-Darm-Grippe, oder eine Erkältung bekommen kann. Viren/Bakterien machen uns krank. Und in der Regel ist das ganze behandelbar. Wir sollten also dringend normalisieren, dass sexuell übertragbare Krankheiten weder selten, noch schmutzig, noch Zeichen von "Rumhurerei" sind.
von Fushicho / Paarberatung 23. Januar 2022
Ein häufiges Thema in meinen Beratungen ist, dass Paare berichten die verschiedenen Ebenen, die sie miteinander teilen, also zum Beispiel Eltern sein, Liebende sein, Sexualpartner sein nicht zufriedenstellend leben können. Oft dominiert vor allem eine funktionale Ebene und andere sinnlichere Ebenen geraten in den Hintergrund, es entsteht ein Mangelgefühl und eventuell auch Frustration. Letztere vor allem dann häufig, wenn die sexuelle Ebene nicht mehr so präsent ist. Besonders eine BDSM-Ebene geht im Beziehungsalltag schnell unter. Irgendwie erscheint nie der richtige Zeitpunkt oder Kontext, um jetzt in die Rollen des Dominanten/ Submissiven zu schlüpfen. Hier empfehle ich Paaren oft, Rituale zu schaffen, die ihnen ermöglichen ihr individuelles Machtverhältnis zu spüren und erleben. Sei es das Anlegen eines Schmuckstückes, das Anleinen zur Nacht, die Servier-Reihenfolge beim Abendessen, ein Kaffee der gebracht wird, ein Knien Abends vor dem zu Bett gehen, und viel mehr was möglich wäre. Solche Rituale lassen sich i.d.R. in den Alltag einbauen und schaffen so Raum sich auch Abseits einer funktionalen Rolle zu erfahren. Hilfreich kann außerdem sein, zunächst einmal im Rahmen der Beratung auseinander zu dividieren, welche unterschiedlichen Rollen jeder jeweils überhaupt inne hat, was diese Rollen ausmacht und - im nächsten Schritt aber auch: Wie malt sich der Rolleninhaber diese Rolle aus, welche Rollenerwartungen werden aber auch an ihn gestellt. 

Dieser Abgleich von eigener Rollenvorstellung und den Rollenerwartungen des Partners führt meistens zu einem besseren Verständnis zwischen den Paaren und einer Erkenntnis, woher Konflikt-, und Streit-Dynamiken rühren. Im Anschluss daran lassen sich sowohl Wünsche und Bedürfnisse der Partner, als auch passende Situationen für die jeweiligen Rollen formulieren.
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