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Ab heute leb' ich polyamor! 

Fushicho • Juni 06, 2019

Die Liebe ist etwas Wunderbares. Wieso sollten wir sie also nicht mit mehreren Menschen teilen, wenn uns danach ist und alle beteiligten Personen einverstanden sind?

So einfach, wie die Überschrift vermuten lässt, ist es in der Regel nicht, sich aus den antrainierten Beziehungsvorstellungen der Monogamie zu lösen und polyamor zu leben. Jeder Schritt aus einer Norm heraus ist schwierig, denn es gibt natürlich viel weniger Vorbilder zur Orientierung, als wenn man einem gesellschaftlich anerkannten Normen-Konzept folgt. In der Regel wird man auch nicht polyamor geboren, wir sind in unserer europäischen Region alle mit den Wertvorstellungen einer exklusiven Paarbeziehung bestehend aus zwei Menschen - in der Regel Mann und Frau - aufgewachsen.

Das heißt, Polyamorie ist eine bewusste Entscheidung.

Und was heißt eigentlich Polyamorie? Der Begriff setzt sich aus dem griechischen Wort polýs – das für „viel, mehrere“ steht – und dem lateinischen Wort amor, also „Liebe“, zusammen. Eine klare Definition gibt es allerdings nicht, denn Polyamorie kann unterschiedliche Formen und Ausprägungen haben.

Warum Menschen sich entscheiden, polyamor zu leben, kann unterschiedlichste Gründe haben. Häufig geht mit der Entscheidung einher, dass diese Menschen sagen:

  • Liebe bedeutet nicht Besitz; ich kann einen Partner, den ich liebe, nicht besitzen, der Partner soll frei sein in seinen Entscheidungen, mit wem er auf welche Art Zeit verbringen möchte.
  • Liebe wird nicht durch sexuelle Exklusivität garantiert.
  • Viele Beziehungen scheitern daran, dass ein Partner fremd geht; durch eine gemeinsame transparente Öffnung der Beziehung für andere Partner kann dies verhindert werden.

Es gibt viele weitere individuelle Gründe, die Entscheidung zu treffen, das Konzept Monogamie für sich nicht mehr als Liebeskonzept verfolgen zu können oder wollen, die oben genannten sind jedoch die häufigsten und sozusagen universellsten Gründe.

Wichtig ist, sich über Folgendes klar zu sein:
  • Die Entscheidung eine Beziehung zu öffnen, sei es für Polyamorie oder eine offene Beziehung, sollte nicht aus defizitären Gründen geschehen. Das heißt: Konflikte, Defizite oder Probleme, die es auf der bestehenden Paar-Ebene gibt, werden nicht dadurch gelöst, dass man sich das, was einem fehlt, woanders holt. Entscheiden sich Paare gemeinsam dazu ihre Beziehung zu öffnen, ist die wichtigste Voraussetzung eine stabile Paarbeziehung zu haben.
  • Polyamorie und offene Beziehung sind zwei verschiedene Paar Schuhe. In der polyamoren Lebensweise werden mehrere Beziehungen mit emotionaler Bindung und grundsätzlich verbindlicher Ausrichtung angestrebt, die parallel existieren. In einer offenen Beziehung haben beide Partner die Möglichkeit, sexuelle Kontakte außerhalb der Beziehung zu leben, diese sind aber eher freundschaftlicher Natur und ohne emotionalen Tiefgang. Natürlich gibt es auch hier nicht Schwarz und Weiß, sondern zig Graustufen, in denen Menschen individuelle Lösungen finden, Konzepte zu leben.
  • Sich für ein polyamores Liebeskonzept zu entscheiden bedeutet nicht, dass man bindungsunfähig ist oder eine Schlampe. Beides sind Vorurteile und Beleidigungen, die unreflektierte Menschen, denen es schwer fällt, sich Polyamorie vorzustellen, häufig äußern.
  • Es gibt nicht DIE eine Form der Polyamorie. Das kann es gerade zu Beginn mitunter kompliziert machen, denn es gibt keinen Ratgeber "Polyamorie für Dummies" oder "How to be Poly", in dem in einer 10-Punkte-Anleitung erlernt werden könnte, wie ein polyamorer Lebensstil funktionieren kann.

Welche Beziehungsform passt zu mir?

Fragen zur Selbstreflexion

Bevor du dich entscheidest polyamor zu leben, solltest du dir einige Fragen stellen.
Diese kannst du für dich selbst durchdenken, aber auch nutzen, um mit einem Partner ins Gespräch zu kommen.

Diese Fragen lassen sich nicht universell beantworten, erfahrungsgemäß verändert sich die Art und Weise, wie man polyamor lebt, auch mit der Zeit und mit den Partnern, da unterschiedliche Menschen unterschiedliche Bedürfnisse mitbringen, die integriert werden wollen.

Manche Fragen werden sich beim ersten Lesen sehr komplex und schwer anfühlen. Das ist gewollt, denn wenn du alle Fragen einfach mit 'Ja' und 'Nein' beantworten könntest, würden wenig intensive Denkprozesse aktiviert werden und die Reflexionsleistung der Fragen wäre recht niedrig.

Fragen zur persönlichen Reflexion:

  • Wie leicht oder schwer fällt es mir generell über meine Gefühle zu sprechen?
  • Nehme ich schnell wahr, ob mir etwas gut tut oder mich unwohl fühlen lässt? Wie gut kann ich dieses Gefühl verbalisieren?
  • Fällt es mir leicht Menschen zu vertrauen? Was brauche ich, um vertrauen zu können?
  • Bin ich ein Mensch, der schnell eifersüchtig ist? Wenn ja, was macht mich eifersüchtig? Wenn ja, was ist meine Idee, warum mich das eifersüchtig macht?
  • Was brauche ich, um mich geliebt zu fühlen? Verbale Bestätigung? Berührung? Fest abgesprochene Zeiten der Zweisamkeit? (Rituale der Affirmation (Affirmation bedeutet Bejahung, Versicherung)? - Was brauche ich, um mich rückversichert zu fühlen, dass alles in Ordnung ist?)
  • Welchen Beitrag soll mein Partner dazu leisten, dass ich mich gut fühle, und welchen leiste ich selbst?
  • Welchen Beitrag möchte ich leisten, damit ein Partner sich gut fühlt?
  • Wie denke ich über Verantwortlichkeit in Bezug auf die eigene Gefühlswelt, empfinde ich mich selbst verantwortlich für das, was ich fühle, wie ich es kommuniziere und wie ich damit umgehe oder sehe ich andere Menschen verantwortlich dafür, wie ich mich fühle?
  • Kann ich mir vorstellen, mit meinem Partner über intime Erlebnisse aus anderen Beziehungen zu sprechen?
  • Wie möchte ich mit meinem Partner über Erlebnisse aus anderen Beziehungen sprechen? Unmittelbar nach einem Treffen mit jemand anderem? Nur wenn ich frage? Detailliert? Grob? Sind mir Details in Bezug auf geteilte sexuelle Praktiken wichtig oder vor allem Details des emotionalen Erleben?
  • Möchte ich, dass mein Partner mit mit abspricht, bevor eine andere Person getroffen wird? Möchte ich, dass mit mir besprochen wird, wenn ein Status mit einem anderen Partner von Date zu Sex, zu Liebe, zu verliebt oder anderem wechselt?
  • Möchte ich ein Veto-Recht haben in Bezug auf andere Partner? Das bedeutet, ich kann einen anderen Partner ablehnen, wenn ich nicht möchte, dass mein Partner mit diesem anderen Partner verkehrt.
  • Würde ich ein Veto-Recht, dass ich mir selbst zugestehe, auch meinem Partner zugestehen?
  • Wie stehe ich generell zu dem Sprichwort "Gleiches mit Gleichem vergelten"? Möchte ich, dass alle Freiheiten, die mein Partner genießt, auch für mich gelten oder denke ich, dass die Freiheiten sehr vom persönlichen Charakter abhängig sind und gar nicht universell für jeden gelten können? (Beispiel: Einer deiner Partner übernachtet gerne bei einem anderen Partner, du selbst hast dieses Bedürfnis nicht bei deinem Partner zu übernachten. Orientierst du dich hier nach deinem Bedürfnis oder orientierst du dich danach, dass wenn der eine woanders schläft, du das auch machst/machen kannst).
  • Was brauche ich, um mich in meiner Beziehung sicher zu fühlen?
  • Möchte ich andere Partner meines Partners kennenlernen? Möchte ich gemeinsame Unternehmungen realisieren?
  • Möchte ich, dass andere Partner meines Partners bei uns übernachten oder wir bei ihnen? Möchte ich - im Fall einer gemeinsamen Wohnung -, dass andere Partner in unsere Wohnung kommen?
  • Brauche ich materielle Grenzen, wie beispielsweise, dass ein gemeinsames Bett exklusiv bleibt?
  • Kann ich mir vorstellen, mehreren Menschen zu sagen, dass ich sie liebe? Möchte ich das?
  • Möchte ich Regeln aufstellen in Bezug auf das Zeitmanagement, wer wann wie viel Zeit mit welchem Partner verbringt?
  • Gibt es bestimmte sexuelle Praktiken, die ich exklusiv nur mit einem Menschen teilen möchte?
  • Wie möchte ich in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden? Ist die Polyamorie etwas, das ich geheim halte oder offen ausleben möchte? Kann ich mir vorstellen, mit unterschiedlichen Partnern oder mehreren Partnern gleichzeitig in der Öffentlichkeit zu sein?
  • Wenn es Kinder gibt: Möchte ich, dass meine Kinder auch andere Partner kennenlernen?
  • Wenn es einen Kinderwunsch gibt: Hypothetisch überlegt, wie ließe sich der Kinderwunsch mit der polyamoren Lebensweise vereinbaren? (Das kann man ausschließlich hypothetisch besprechen, da kommt es am Ende ganz sicher doch wieder anders.)
  • Gibt es Wünsche in Bezug auf einen gemeinsamen Lebensmittelpunkt?

Eine polyamore Lebensweise ist keine Maschine, die - wenn man sie einmal richtig eingestellt und programmiert hat - flüssig läuft. Wie in jeder Beziehung bedeuten auch polyamore Beziehungen Arbeit. Allerdings oft in zweifacher, dreifacher, x-facher Art. Denn mehr Menschen bringen mehr Meinungen, Ansprüche, Ideen und Bedürfnisse mit.

Polyamorie bedeutet auch eine Bereitschaft mitzubringen, sich selbst immer wieder zu hinterfragen, zu betrachten, welche Rolle im Beziehungsgefüge man aktuell einnimmt und ob diese mit den Wunschvorstellungen übereinstimmt, viel öfter und klarer hinterfragen und kommunizieren zu müssen, wie man sich fühlt und was man braucht, komplexe und schwierige Themen auch mal mit mehr als zwei Gesprächspartnern diskutieren zu müssen, verletzlich zu sein, intensive Gefühlsumbrüche von rosarot bis zu Verlustängsten in kurzer Zeit zu erleben.

Polyamorie bedeutet:

  • Konstante Kommunikationsarbeit
  • Hohe Reflexionsbereitschaft
  • Bedürfnisorientierte Kommunikation
  • Gewaltfreie Kommunikation, die alle Gefühle und Gedanken zunächst zulässt und ihnen Raum gibt
  • Urteilsfreies Denken - andere Ansichten und Gefühle werden weder be- noch verurteilt
  • Akzeptanz von auseinander driftenden Bedürfnislagen
  • Intensive Bemühung für ein hohes Sicherheitsgefühl und Vertrauen
  • Konfliktbereitschaft und Diskussionsfähigkeit
  • Neugier und Lernbereitschaft Neues über sich selbst zu erfahren

Christina Rüther definiert vier Merkmale, um die Polyamorie von anderen Beziehungsformen unterscheiden zu können :

  • erotische Liebe mit mehr als einer Person („Poly“ ist mehr als Freundschaft, ist nicht Monogamie),
  • Transparenz und Ehrlichkeit („Poly“ ist nicht betrügen/ fremdgehen),
  • Gleichberechtigung und Konsens („Poly“ ist nicht patriarchale Polygynie),
  • langfristige Ausrichtung („Poly“ ist prinzipiell nicht Swinging) (2005, S.52-54).
http://christianruether.com/wp-content/uploads/2013/02/Gesch-Freie-Liebe-offene-Ehe-und-Polyamory.pd...

Der ethische Anspruch besteht darin, die Bedürfnisse und Beziehungsrealitäten aller Partner miteinander zu kommunizieren, Aushandlungsprozessen Raum zu geben und nach Möglichkeit einen Konsens zwischen allen Beteiligten zu finden.


Literatur (Ratgeber und Erfahrungsberichte)

Negative Gefühle - Chance oder Zerstörung?

Der Weg in die Polyamorie ist häufig ein schmerzhafter. Denn du wirst sehr viel Neues über dich lernen. Dadurch, dass alle Selbstverständlichkeiten, die ein eingenormtes Beziehungsmodell wie die Monogamie mit sich bringt, plötzlich abhanden sind, wirst du ganz neu ausloten müssen was du möchtest und brauchst. Du wirst mit Eifersucht, Unsicherheiten, Verlustängsten, Neid zu kämpfen haben.

Es geht nicht darum einen Weg zu finden, mit dem du in deinem polyamoren Modell 24/7 glücklich und verliebt bist. Es wird immer Konflikte geben.

Du darfst Eifersucht erleben und auch Angst; du kannst dann damit arbeiten, wenn du es möchtest. Aus dem Gefühl der Eifersucht oder auch Angst kannst du sehr viel lernen, wenn du in das Gefühl hinein gehst und dich fragst: Warum fühle ich Eifersucht? Was macht mich ängstlich? Wodurch fühle ich mich minderwertig? Warum? Es kann daher sehr erbaulich sein, sich auch den vermeintlich negativen Gefühlen zu stellen und viel Positives aus ihnen herauszuziehen.

Prinzipiell ist Eifersucht weder ein Liebesbeweis noch zwingend nötig noch das Böse schlechthin. Eifersucht lässt sich ganz gut analysieren, oft ist sie eher ein Ausdruck ganz vieler verschiedener Gefühle.

Die Defizit-Logik / Mangel-These

Wie schon weiter oben angesprochen, ist es keine gute Voraussetzung eine monogame Beziehung in eine polyamore Beziehung zu überführen, um damit Probleme auf der Ursprungs-Paarebene zu lösen. In der Regel verkompliziert man damit lediglich alles.
Mangel sollte nicht die Ursache für Nicht-Monogames Begehren sein, denn dann ist die Kompensation über eine Öffnung der Beziehung lediglich eine Symptomverschiebung. In der Regel entscheiden sich Menschen aber auch nicht aus einem Mangel für einen polyamoren Lebensstil, sondern weil sie tradierte Normen, Lebens- und Liebeskonzepte hinterfragen.

Polyamor lebende Menschen bekommen sehr häufig zu hören: "Dann liebst du X halt nicht richtig, wenn du auch noch was mit wem anderen anfängst". Die Mono-Normativität der Exklusivität, die eine beiderseitige maximale Erfüllung darstellen soll und nur in einem monogamen Kontext funktioniert, ist tief in den Köpfen verankert.

Dabei kann Polyamorie auch eine Affektkette produzieren, die zu einer Intensivierung und Steigerung der ursprünglich empfundenen Liebe gegenüber jemandem führt (Sogenannte poly-affektive Steigerung).

Mehr Liebe für alle? Oder ist Liebe doch eine begrenzte Ressource?

Gesa Mayer (Dipl-Soziologin) schreibt in "poly werden - oder warum es dem Begehren an nichts mangelt" über die Mangel-Logik und die poly-affektive Steigerung. Der Beitrag ist im Journal für Psychologie erschienen:
https://www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/view/322/353

Austausch (Foren/Stammtische/Links)

Es kann hilfreich sein, sich über Gefühle, Arten der Polyamorie, Probleme mit anderen in einem geschützten Rahmen auszutauschen.

http://www.polyamorie.de
https://www.facebook.com/groups/polydeutsch/
http://www.polyamorie.de/poly-stammtische-veranstaltungen-74.html
http://www.polytreff.de/termine
https://polyamory.de

Wir bieten Beratung an, mit dem Schwerpunkt Polyamorie (unter anderem). Du kannst dich an uns wenden, wenn du Fragen hast, Probleme, Unsicherheiten oder du ein schwieriges Thema mit mehreren Partnern gemeinsam unter Anleitung diskutieren möchtest.

Ist Polyamorie ein kapitalistisches Phänomen?

Zugegeben, diese Frage ist einerseits eine ziemlich große und andererseits erscheint sie auch absurd, da die meisten Menschen, die sich für eine polyamore Liebesweise entscheiden, damit einhergehend Hierarchien, Normen, Gesellschaftsstrukturen kritisch hinterfragen.

Die Frage ist aber nicht unbegründet. Der kapitalistische Mensch, der auf Selbstoptimierung konditioniert wurde, konsumiert nicht nur Produkte, sondern auch Menschen - und vielleicht auch Liebe? Dating-Apps versprechen den kompatibelsten Partner zu finden, Menschen verlassen Beziehungen auf der Suche nach etwas Besserem statt an Konflikten zu arbeiten.

Konstantin Nowotny beschäftigt sich in seiner Masterarbeit (Soziologie) mit dieser spannenden Frage, ich zitiere das Abstract:

"Es steht schlecht um die romantische Liebe in der westlichen Welt. Überall wo Kapitalismus und Industriegesellschaft auf Hochtouren laufen, wo die Großstädte wachsen und die Märkte florieren, werden die Ehen kürzer und häufiger geschieden, die Kinder seltener und selbst die vorehelichen Beziehung wechselhafter. Da, wo die Religion kaum noch eine Rolle spielt, sinkt die Geburtenrate seit Jahrzehnten unter das Reproduktionslevel, sowohl in Europa als auch in den USA.

Das ist kein rein strukturelles Phänomen. Auch auf der Mikroebene, so scheint es, fällt es den Akteuren zunehmend schwerer, einen Partner fürs Leben zu finden, sich den Kinderwunsch zu erfüllen oder – und das ist im größeren Maße der Fall – das Konzept des lebenslangen Partners oder des Kindes überhaupt beizubehalten. Hartmut Rosa schreibt: »Der Lebensabschnittspartner ersetzt heute tendenziell den Lebenspartner.« Das war 2009. Seitdem ist neben dem Trend zum Liebespaar auf Zeit noch ein weiterer (wieder) in den Vordergrund gerückt: die Polyamorie. Einst als Flausen im Kopf der 68er-Bewegung verurteilt, feiert sie nun ein Comeback. Nicht nur Lifestyle-Magazine wie Neon, auch die Feuilletons der großen deutschen Tageszeitungen beschäftigen sich mit der Liebe, die mehr als einen Partner kennt, im zunehmenden Maße. Selbst in zeitgenössischen Serien und Filmen sieht man, so scheint es, immer häufiger Paare in offenen oder polyamorösen Beziehungen, von House of Cards bis GZSZ.

Die Liebe und der Kapitalismus. Schon vor Jahren beschäftigte sich die amerikanisch-israelische Soziologin Eva Illouz mit diesem Thema, zunächst in ihrem Buch Der Konsum der Romantik , später systematischer in Warum Liebe weh tut. Darin macht sie einige bemerkenswerte Beobachtungen: Die Romantik ist ein durch und durch kapitalisiertes Konzept geworden. Kaum ein romantisches Ding, das nicht auch als Produkt existiert. Gleichzeitig verfahren Menschen miteinander auch zunehmend in einer Art Ökonomie der Gefühle: Warum noch in einer Beziehung bleiben, wenn sie sich nicht mehr lohnt ? Wo kann man sein Vertrauen mit der größtmöglichen Rendite investieren? Dating-Plattformen wie Tinder treiben diese Wahrnehmung auf die Spitze. Der potentielle (Sex)Partner ist nur einen Wisch mit dem Zeigefinger entfernt. Er kann konsumiert werden und verschwindet danach, je nach Laune, für immer.

Die in der Bearbeitung befindliche Masterarbeit beschäftigt sich mit dem Thema Polyamorie auf Grundlage einer kapitalistischen Gesellschaftsanalyse. Ausgehend von einem gesellschaftlichen Makrophänomen soll mit unterschiedlichen Konzepten in die Mikroebene eingetaucht werden. Ist Polyamorie ein Symptom einer durchrationalisierten Liebeswelt, oder ist die Monogamie tatsächlich nur ein Residuum der bürgerlichen Tauschgesellschaft, wie Friedrich Engels es einst meinte? Zusätzlich zu Auswertungen von Zeitungen und Zeitschriften werden für die Masterarbeit auch Interviews geführt. Die Teilnehmer müssen dabei nicht selbst polyamoröse Erfahrungen gemacht haben. Präsentiert werden können am Ende nicht nur Zahlen und Fakten zu Formen und Verbreitung von Polyamorie in Deutschland und den USA, sondern auch (anonymisierte) Interviewaussagen und Metaanalysen von Zeitungsartikeln sowie deren theoretische Interpretation – von der Frankfurter Schule bis Rational Choice. Es geht um das schwierige Unterfangen, eine Wertewelt abzubilden und die Logik hinter dem Nutzen von Liebe überhaupt zu ergründen. In einer Welt, in der scheinbar jederzeit alles möglich ist – ist da noch Platz für den einen ?"


von Victoria Fushicho 29 Mai, 2024
Jörg und ich waren über Pfingsten zu Gast im Karada House in Berlin und Teilnehmende, bei dem dort stattgefundenen Semenawa Workshop, welcher von Naoko und ihren Modellen gehalten wurde. Das Karada House ist ein von mehreren Personen geführter queerer Ort für LGBTQIA+ Personen und anderen Menschen marginalisierter Gruppen. Sowohl Jörg als auch ich, verarbeiten dieses Wochenende noch immer, sowohl inhaltlich als auch emotional. Dennoch möchte ich meine Erfahrungen und die durch das Wochenende angestoßenen Gedanken mit euch teilen. Dieser Eintrag widmet sich allein den Eindrücken, welche ich im Space von Karada House gemacht habe und weniger dem Workshop oder den Inhalten. Vor jedem Workshop den wir besuchen, verspüre ich immer eine Aufregung und auch eine Art Unsicherheit, bezüglich der Tage die auf mich zukommen, der Menschen welchen ich begegne und letztlich auch ob ich als Modell „gut durchhalte"- was auch immer gut durchhalten bedeutet. Dieses Mal war ich nicht weniger aufgeregt, doch meine Unsicherheiten waren nebst den bekannten auch andere; bin ich achtsam genug, bin ich überhaupt queer oder marginalisiert genug dort zu sein, was, wenn ich versehentlich Menschen falsch lese oder misgendere…ihr könnt es euch vorstellen, mein Stressball war auf Anschlag. Kleiner Einschub, ich habe eine Person misgendert, mich korrigiert und mich bei der Person entschuldigt- Fehler passieren- das ist nicht das Ende der Welt, unser Umgang in so einer Situation entscheidet allerdings ob sich die betroffene Person mit uns sicher fühlt oder nicht. Ich habe das Karada House als offenen, gemeinschaftlichen Ort erlebt, indem ich mich eingeladen fühlte einfach sein zu können und was ich mitzubringen hatte vollkommen ausreichend war. Ein Ort des Austausches, des Wohlwollens, weg von Konkurrenz und einer Instagram/ „wir fesseln nur für Fotos" Mentalität. Einen Ort an dem sich die Menschen nacheinander in den Pausen erkundigten. „Was ist dein Bedürfnis? Brauchst du was? Hast du genug gegessen/ getrunken? Möchtest du dich zurückziehen?“ Noch nie habe ich einen Space besucht, welcher so divers war, wie dieser- schön und auch schade zugleich. Das soll keine Lobhudelei darauf werden wie toll alles war, durchaus gab es Dinge, die ich persönlich anders machen würde, dennoch hat sich mein Aufenthalt sicher für mich angefühlt- ich war durchaus oft von den Eindrücken überfordert, aber ich habe mich sicher und für dieses Wochenende, als Teil einer Community gefühlt. Keinesfalls möchte ich andere Spaces oder Veranstaltungen herabsetzen, dennoch wirft dieses Wochenende in Berlin unweigerlich die Frage danach auf, was mir in anderen Spaces und Veranstaltungen gefehlt hat?! Welche Verantwortung haben wir als Veranstaltende, wenn es darum geht den organsierten Workshop und oder den Space sicherer zu machen? Wie werden Menschen einbezogen, eingeladen, angesprochen? Werden sie überhaupt inkludiert? Ein Space, ein Workshop oder eine Veranstaltung werden nicht sicherer, weil man sich ein Label aufgeklebt hat, Communities entstehen nicht einfach von alleine, weil Menschen mit einer gemeinsamen Leidenschaft zusammenkommen und es fühlen sich auch nicht alle Menschen angesprochen weil auf einer Homepage die Floskel „hier sind alle willkommen* steht - dazu fällt mir ein Zitat ein, ich weiß leider nicht mehr von wem „werden Menschen nicht aktiv einbezogen, werden sie passiv ausgeschlossen...* Mir ist durchaus auch klar, dass Vielfalt etwas ist, welches sich natürlich entwickeln muss und die Diversität in Spaces hängt nicht selten von der jeweiligen Verortung ab. Doch, einen Space zu eröffnen, Workshops zu hosten, Veranstaltungen zu organisieren, ist ein wichtiger Anteil innerhalb der Szene, dem Macht und vor allem Verantwortung innewohnt. Wir bereiten die Basis dafür, dass sich Menschen bei uns wohl, geschützt und gesehen fühlen. Wir haben Einfluss darauf wer Zutritt erhält, wie mit Konflikten umgegangen wird und ob und wie Konsequenzen bei Missachtung oder Fehlverhalten resultieren. Und wir sollten mit gutem Beispiel voran gehen, einen Werte und Ethik Kompass zu etablieren, an dem sich andere orientieren können und den wir ungeachtet freundschaftlicher Beziehungen zu anderen innerhalb der Szene auch einhalten. Ich werde von den Eindrücken dieses Wochenendes noch eine Weile zehren, fand viel Bestätigung in unserer eigenen Art einen Space zu führen und konnte positive Dinge für uns mitnehmen. Solltet ihr mit dem Gedanken spielen, dass Karada House einmal zu besuchen/ einen Workshop dort zu besuchen, TUT ES.
von Fushicho 15 Jan., 2024
Basic Infos für alle Menschen, die mit dem Fesseln beginnen von Seilmaterialien über Verletzungspotentiale und Konsens Kultur.
von Lecia Fushicho 11 Nov., 2023
Muganawa - Vollkommen präsent im Moment sein und ohne Ziel und ohne festes Bild fesseln
von Fushicho 27 Juni, 2023
Zu alt, zu arm, zu queer, nicht queer genug – auch wenn Lesben, Schwule, bisexuelle, trans* oder inter* Menschen unter sich sind, fühlen sich nicht alle gleichermaßen willkommen und respektiert. Victoria spricht in diesem Podcast über ihre Erfahrungen innerhalb der queren Community, über schwarz sein und Tokenism, über Pansexualität und Sexualisiert werden, über Polyamorie und Slut-Shaming. Über White Passing und darüber, dass Schwarz keine Farbe ist. Vor allem aber darüber, dass ALLE Menschen lernen sollten einander zuzuhören, in einen echten Dialog miteinander zu gehen, voneinander zu lernen, übereinander zu lernen und niemand jemals "perfekt anti-diskriminierend" sein wird.
von Fushicho 07 Feb., 2023
Mit anderen Frauen Sex haben ist völlig okay, aber mit einem anderen Penis nicht? Warum das ziemlich unlogisch ist erklären wir dir hier im Beitrag zur One Penis Policy.
von Fushicho 07 Feb., 2023
Was macht Sexualität aus und was macht Intimität aus? Oftmals wird in einer Beziehung vorausgesetzt, das klar ist wie der gemeinsame Sex oder die gemeinsame Intimität aussehen. Meistens lohnt es sich darüber zu sprechen!
von Fushicho 07 Feb., 2023
Eifersucht in offener oder polyamorer Beziehung ist ganz normal. Sie ist ein Gefühl wie jedes andere auch und möchte dir etwas über deine Ängste und Bedürfnisse mitteilen.
von Fushicho / Sexualberatung 27 Jan., 2022
Theoretisch haben wir alle in der Schule gelernt, dass es sexuell übertragbare Krankheiten gibt, welche das sind und wie man sich schützen kann. Ja. Theoretisch. Mehrheitlich waren diese Unterrichts-Situationen doch eher unangenehm, man war froh, wenn das Thema durch war und dachte sich: 1.) Wird mir schon nicht passieren ich bin ja informiert 2.) Wenn ich darauf achte Kondome zu nutzen, geht es schon gut 3.) Das betrifft ja nur Leute, die rumhuren Zu 1.: Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat 2016 die " Strategie zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragbaren Infektionen “ vorgestellt. Im Rahmen dieser Strategie wurde eine Umfrage zu Gesundheit und Sexualität in Deutschland (GeSiD) unter knapp 5.000 Teilnehmern zwischen 18 und 75 Jahren durchgeführt. Ein Teil dieser Studie beschäftigt sich mit der Bekanntheit verschiedener sexuell übertragbaren Infektionen. HIV/AIDS war mit Abstand die bekannteste STI (71 Prozent). Danach folgt mit knapp 40 Prozent Gonorrhö (auch Tripper genannt) und mit gut 30 Prozent Syphilis. Etwa jedem zehnten Deutschen sind Chlamydien, Genitalherpes und Hepatitis B als Geschlechtskrankheiten geläufig. Seltener wurden Genitalwarzen, Filzläuse und Trichomonaden genannt. Vergleichen wir diese Ergebnisse mit den häufigsten Geschlechtskrankheiten Deutschlands: Chlamydien Trichomonas vaginalis Gonokokken /Gonorrhö (Tripper) Sowohl Chalmydien, als auch die Trichomonaden sind nur mindestens jedem zehnten Deutschen geläufig. Das ist ein Missverhältnis zwischen Häufigkeit und Bekanntheit. Zu 2.: Kondome schützen sicherlich vor vielen sexuell übertragbaren Krankheiten. Allerdings können die Erreger auch über den Mund und die Hände übertragen werden, wenn diese Kontakt mit Genitalien haben. Der Blowjob gehört zu den zweit-beliebtesten Sexualpraktiken, wird aber nur in sehr seltenen Fällen mit einem Kondom praktiziert. Dass es für Oralsex an der Frau auch "Kondome" gibt, sogenannte Lecktücher (alternativ funktionieren auch aufgeschnittene Gummihandschuhe/ Frischhaltefolie) ist nur wenigen bekannt. Sich alleinig auf das Verwenden von Kondomen bei penetrativem Sex zu verlassen ist also keine gute Idee. Zu 3.: Das ist eine extrem Vorurteils-Behaftete Vorstellung. Geschlechtskrankheiten haben nichts damit zu tun "rumzuhuren" und dieser Begriff assoziiert, dass Huren (SexarbeiterINNEN, Prostituierte) grundsätzlich "schmutzig" und mit einem Risiko sich zu infizieren versehen wären. Das ist ein Stigma. Und es entspricht keiner Realität. Jeder Mensch, der Sex hat, kann sich auch mit einer sexuell übertragbaren Krankheit infizieren. Punkt. That's it. Genauso, wie jeder Mensch eine Magen-Darm-Grippe, oder eine Erkältung bekommen kann. Viren/Bakterien machen uns krank. Und in der Regel ist das ganze behandelbar. Wir sollten also dringend normalisieren, dass sexuell übertragbare Krankheiten weder selten, noch schmutzig, noch Zeichen von "Rumhurerei" sind.
von Fushicho / Paarberatung 23 Jan., 2022
Ein häufiges Thema in meinen Beratungen ist, dass Paare berichten die verschiedenen Ebenen, die sie miteinander teilen, also zum Beispiel Eltern sein, Liebende sein, Sexualpartner sein nicht zufriedenstellend leben können. Oft dominiert vor allem eine funktionale Ebene und andere sinnlichere Ebenen geraten in den Hintergrund, es entsteht ein Mangelgefühl und eventuell auch Frustration. Letztere vor allem dann häufig, wenn die sexuelle Ebene nicht mehr so präsent ist. Besonders eine BDSM-Ebene geht im Beziehungsalltag schnell unter. Irgendwie erscheint nie der richtige Zeitpunkt oder Kontext, um jetzt in die Rollen des Dominanten/ Submissiven zu schlüpfen. Hier empfehle ich Paaren oft, Rituale zu schaffen, die ihnen ermöglichen ihr individuelles Machtverhältnis zu spüren und erleben. Sei es das Anlegen eines Schmuckstückes, das Anleinen zur Nacht, die Servier-Reihenfolge beim Abendessen, ein Kaffee der gebracht wird, ein Knien Abends vor dem zu Bett gehen, und viel mehr was möglich wäre. Solche Rituale lassen sich i.d.R. in den Alltag einbauen und schaffen so Raum sich auch Abseits einer funktionalen Rolle zu erfahren. Hilfreich kann außerdem sein, zunächst einmal im Rahmen der Beratung auseinander zu dividieren, welche unterschiedlichen Rollen jeder jeweils überhaupt inne hat, was diese Rollen ausmacht und - im nächsten Schritt aber auch: Wie malt sich der Rolleninhaber diese Rolle aus, welche Rollenerwartungen werden aber auch an ihn gestellt. 

Dieser Abgleich von eigener Rollenvorstellung und den Rollenerwartungen des Partners führt meistens zu einem besseren Verständnis zwischen den Paaren und einer Erkenntnis, woher Konflikt-, und Streit-Dynamiken rühren. Im Anschluss daran lassen sich sowohl Wünsche und Bedürfnisse der Partner, als auch passende Situationen für die jeweiligen Rollen formulieren.
von Fushicho 19 Okt., 2021
Seit über 10 Jahren bin ich in der Welt des BDSM aktiv und habe die unterschiedlichsten Facetten dieser schillernden Welt bewundert, bestaunt, betrachtet und für mich entschieden, was ich davon toll oder persönlich nicht so toll finde. Und seit ein paar Jahren nutze ich dieses Wissen auch in meiner Arbeit, sei es als Fessel-Lehrerin oder als Sexual Coach. Ich finde es persönlich sehr wichtig, als Coach in diesem Bereich nicht nur theoretisches Wissen zu haben, sondern auch Selbsterfahrung. Und wenn ich eine Sache sicher weiß, dann dass man nie auslernt, denn Sexualität verändert sich - im Lauf des Lebens, des Alterns, abhängig von Partnern und Lebensumständen. Als ich mich entschied mit meinem Partner am Workshop "Feuer" von Kristina Marlen teilzunehmen, wusste ich nur zwei Dinge: 1.) Kristina Marlen ist eine von mir vielfach bewunderte Frau und allein deshalb wird sich lohnen von ihr zu lernen 2.) Es würde mein erstes Mal in der Rolle der Teilnehmerin werden und ich war ziemlich nervös Und dann gab es auch noch eine dritte Ebene, die aber vor allem eine rein hypothetische Meta-Ebene war, nämlich die, wie mein Partner und ich wohl in der Semi-Öffentlichkeit funktionieren würden. Immerhin ist es ein ziemlich großer Unterschied, privat zu Hause in die Welt des BDSM einzutauchen, oder vor anderen - bis dato fremden - Menschen miteinander in ein intensives Spiel zu gehen. Oder sogar mit anderen? Und was wäre, wenn ich meinen Partner, den ich bisher als sehr souverän und authentisch empfand plötzlich als unsicher erlebe? Klar, das ist menschlich, aber würden wir auch damit umgehen können innerhalb unseres D/s Verhältnis und während wir gerade in einer komplett neuen Situation sind, die uns potentiell beide verunsichert? Und ist es eigentlich sinnvoll in einer so frischen Beziehung an einem Workshop teilzunehmen? Ich habe beschlossen, all diese Überlegungen für einen Ausflug in den Wald zu schicken und stattdessen einfach offen und frei für jede Erfahrung zu sein die zu mir kommt, denn wenn sie eines immer sicher tun, dann dich selbst weiterbringen. Gerade in der Wahrnehmung der inneren Widerstände, Grenzen und dem Gefühl des Unbehagen liegt sehr viel Kraft zu wachsen, sich selbst besser zu erkennen und sich zu entwickeln. Und so betrat ich Samstag Morgen den Raum und wurde direkt in eine Situation geworfen, die mich vor wenigen Jahren noch in Bedrängnis gebracht hätte. Tanzen am Morgen - einfach so - mit völlig Fremden - Jetzt - auf Knopfdruck. Und alle machten das auch ganz frei und fröhlich, während ich innerlich dachte "Bitte nicht, ich möchte mich setzen, meinen Tee trinken und in meiner Beobachter-Rolle fühle ich mich eigentlich sehr wohl". Ich bin nicht zum mitmachen gezwungen worden, aber die Selbstverständlichkeit und Fröhlichkeit aller Tanzenden hat mich einfach mitgerissen. Aus Tanzen wurde auf dem Boden kriechen, sich fangen, übereinander kriechen, nebeneinander, ein ganzer Haufen kriechender Menschen. Fremder Menschen! ABER ich war auch plötzlich ganz körperlich präsent. Hatte gar nicht mehr das Bedürfnis nach einer Beobachter-Rolle, sondern wurde souverän damit körperlich präsent zu sein, mich körperlich zu zeigen, auszudrücken, ganz ohne Kopf und das war eine ziemlich gute Erfahrung die mich denken ließ "Wow, das ist klug, direkt zu Beginn des Workshops mit allen Unsicherheiten brechen und die Teilnehmer mitreißen in die Körperlichkeit und die Aktivität zu gehen, damit das keine lahme Gruppe wird wo jeder erstmal nur guckt aber nichts macht". Ich muss an dieser Stelle aber auch ergänzen, dass es sich allein deshalb lohnen könnte, das Tanzen mitzumachen, weil Kristina Marlen ganz sicher die Königin des Körper-Ausdrucks ist und ich bereits vor JAHREN, als ich sie das erste Mal auf einer EURIX (European Rigger Exchange - Festival in Berlin) wahrnahm beeindruckt und ein bisschen angeturnt war, wie gut sie sich bewegt und wie sehr ihr Körper spricht, ganze große Geschichten werden da erzählt. Im weiteres Tagesverlauf beschäftigten wir uns mit Grenzen, vor allem damit, dass Grenzen nicht nur etwas mit Nein-Sagen zu tun haben, sondern vor allem auch mit Ja-Sagen! Es reicht nicht aus, bloß zu wissen was man alles nicht will, es ist ebenso wichtig enthusiastisch sagen zu können, was man ganz unbedingt will. Diese Übung habe ich am meisten gemocht, denn es ist ein allgemeines Problem, dass nicht nur Stellenwert in der Sexualität hat, dass Menschen sehr oft nicht wissen, was sie wirklich wollen, was ihre Herzen begehren, wozu sie im Leben AKTIV Ja sagen wollen. Die Übung war wichtig, um Grenzbewusstsein und Achtsamkeit im Umgang damit bei allen Teilnehmern nochmal zu schärfen, gleichwohl die Gruppe von Beginn an sehr achtsam auftrat. In einer anderen Übung lernten wir unsere Hände als vielfältige Schlaginstrumente kennen und da war ich persönlich überrascht auf wie viele Arten ich Schlagwerkzeuge mit meinen Händen imitieren kann. Der Tag endete mit einem - bewusst sportlich gehaltenen - Zirkeltraining, mehreren Stationen mit thematisch sortierten BDSM-Elementen (Flogging / Caning / Wachs / Fixierung) die man zu zweit ausprobieren konnte, um für sich rauszufinden, was einem Lust bereitet und was nicht. Für diese Übung wurde sehr viel Zeit eingeräumt, was ich sehr angenehm fand. Wo mein Partner und Ich am Vormittag die Chance genutzt hatten uns auch mit anderen Menschen auszuprobieren (denn wir waren das einzige Paar, dass mit bestehender D/s Konstellation in den Workshop kam) und diese Chance auch sehr genossen haben, denn man lernt mehr, wenn man aus Mustern ausbricht und neue Dinge mit unbekannten Menschen vorsichtig und langsam ausprobiert, haben wir das Zirkeltraining gemeinsam gemacht. Denn es sollte uns in unserer Beziehung Aufschluss darüber geben, was wir miteinander intensiver ausprobieren wollen. UND ich persönlich hätte mir gar nicht vorstellen können in eine - teilweise mit Schmerz verbundene - Intensität mit anderen Menschen zu gehen, in mir wäre es nur zu Abwehrreaktion gekommen, was einerseits daran liegt, dass ich nicht masochistisch bin (der Schmerz selber löst in mir keine Lust aus - nie / einzig und allein dass ich das FÜR jemanden aushalten möchte/muss, dass jemand mich dazu zwingt, usw. bereiten mir Lust) und andererseits daran, dass ich - wie ganz viele Menschen - auch traumatische Anteile in mir habe, die es mir schwer machen, in eine solche körperliche Intensität mit Fremden zu gehen. Das war aber völlig unproblematisch, dass wir dort dann als Paar interagiert haben und für uns super aufschlussreich im Labor-Modus zig Spielzeuge auszuprobieren und zu bewerten. Kristina Marlen und ihr* Partner* waren die ganze Zeit über präsent, in ruhiger, zulassender, Raum gebender Art und Weise. Jederzeit ansprechbar, aber nie aufdrängend. In den Demonstrationen - die wirklich schwierig für Workshopleiter sind, denn ad hoc mit seinem Partner in eine intime Situation switchen und währenddessen einem Kurs auch noch etwas erklären, ohne die Aufsichts-, und Fürsorgepflicht gegenüber dem Partner zu vernachlässigen ist schwer - waren beide so wunderbar echt, nahbar, witzig und das tat gut, denn BDSM muss wirklich nicht so ernst sein, es ist auch nur eine Facette der Sexualität, bei der man lachen und Spaß haben darf. Die Stimmung im Raum war leicht, annehmend, frei, sexpositiv, neugierig, geschwängert von "Ah's" und "Oh's" und fiependen und stöhnenden Lauten. Ein ganz wunderbarer Raum! Mein Abend setzte sich intensiv fort, denn der Tag war so anregend, dass mein Partner und Ich zwar müde und körperlich erschöpft waren, aber dennoch nicht davon abgehalten werden konnten, noch eine sehr intensive Session miteinander zu teilen. Tag zwei begann erneut mit Tanzen und aufwärmen (ich hatte mich nun schon damit angefreundet, ein schneller Prozess :-) ) um sich dann den Techniken des Floggings zu widmen. In unterschiedliche Teil-Übungen aufgedröselt bekam jeder Teilnehmer die Möglichkeit sich an beiden Enden des Floggers zu erleben. Ein theoretischer Vortrag zu Pain-Processing und sich daran anschließende Mikro-Übungen zur körperlichen Erfahrung vervollständigten die Toolbox um dann nach der Mittagspause gerüstet zu sein, für eine "richtige" Session. Alle Workshop-Teilnehmer zogen sich sexy Klamotten an (wobei ich kritisch anmerken müsste, dass die Männer da sehr viel Luft nach oben hatten, diese blieben nämlich mehrheitlich im Sport-Outfit *zwinker*) und richteten sich Session-Plätze ein mit ihren Wunsch-Tools, die sie verstärkt ausprobieren und einsetzen wollten. Der dominante Part, war jetzt in völliger Service-Rolle, es sollte nicht darum gehen, dass der dominante Part seine Fantasien durchsetzt, sondern den empfangenen Part damit beschenkt, dessen Fantasien zu bedienen. Der Raum füllte sich wieder mit Wärme, Stöhnen, den Geräuschen der Peitschen und Paddle und ich selber driftete mit meinem Partner in eine sehr tiefe, sehr ergreifende Session, in der wir vor allem lernten, dass wir auch komplizierte Flugmanöver, kurzentschlossenes Umlenken bei Gefahr des Flugzeugabsturzes, Steilstart und Segelfliegen beherrschen. Ich belasse es an dieser Stelle metaphorisch, aber es war eine gute Erfahrung zu spüren: Wir vertrauen einander so sehr, dass wir hier ganz öffentlich miteinander in eine Edgeplay-Session gehen, wir können Unsicherheiten gemeinsam aushalten, wir können beide auch innerhalb einer Session für uns selber einstehen und uns mitteilen (das war für mich neu, dass ich auch völlig weg gespacet kurz auftauchen und mich klar artikulieren kann, was ich brauche oder wo mein Problem liegt, um dann wieder abzutauchen) und wir wollen das vor allem beide ganz aus unseren Herzen heraus, ganz aus uns selbst heraus motiviert. Ich bin - beyond words - dankbar für diese tolle Erfahrung. Kristina Marlen wird jetzt auf noch viel mehr Arten und Weisen von mir bewundert, gleichzeitig habe ich aber auch auf Augenhöhe sehen können, wie ähnlich unsere Ziele und Visionen oft sind, war dankbar als halbe Kollegin trotzdem ganz privat in diesem Kurs sein zu dürfen (und nein, das ist leider nicht selbstverständlich, dass es unter Kollegen ohne Umstände möglich ist in deren Didaktiken und Ansätze reinzuhören/ reinzuprobieren). Ich habe - und das war mir aber vorher aufgrund meiner eigenen Expertise klar - persönlich nichts Neues über BDSM Tools und Plays gelernt (sehr wohl aber Einzelheiten, wie den Einsatz der Hände als Schlagwerkzeug), aber ich habe sehr viel Neues über mich, meine Wünsche im Play mit meinem jetzigen Partner, meine Möglichkeiten und Grenzen gelernt und vor allem habe ich gelernt, dass ich im Verlauf der letzten Jahre sehr bei mir selbst und meiner Sexualität angekommen bin und sehr gut für mich einstehen und sorgen kann. Eine wertvolle Spiegelung die ich mitnehmen darf. Obwohl ich also nicht die primäre Zielgruppe dieses Workshops war, war er sehr bereichernd für mich. DANKE! An Kristina Marlen, Partner*, ihr Team, die Workshop-Teilnehmer, meinen Partner und auch an mich selbst. Mehr zu Kristina Marlen: https://www.marlen.me (Das Bild stammt auch von ihrer Homepage)
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